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Detlev
Kranz
Zum Beispiel: Lyrik
(veröffentl. in:
PRAXIS des neusprachlichen Unterrichts, 1/83, S. 50 – 57,
Dortmund; Verlag Lambert Lensing)
Betrachtet man die Realität von Lernen in der
heutigen Schule, so stellt man fest, daß eine Priorität der
kognitiven Lernprozesse den Schulalltag und damit die
Entwicklung und Prägung der Schülerpersönlichkeit wesentlich
bestimmt. Gestalt-Pädagogik dagegen stellt den ganzen Menschen
in den Mittelpunkt, sie fordert ganzheitliches Lernen in der
Schule, also ein Lernen, das wirklich kognitive, affektive und
psychomotorische Ebenen verbindet. Ich stelle Ihnen an einem
konkreten Beispiel, nämlich der Lyrikbehandlung im
Englischunterricht, vor, wie dies in der Praxis aussehen kann
und möchte Sie dabei zur Auseinandersetzung mit der
Gestalt-Pädagogik anregen.
1. Was will die
Gestalt-Pädagogik?
Die Lernprozesse in der Schule richten sich
meistens nicht an der Ganzheit des Schülers und an der
Ganzheit des Lerngegenstandes aus. Durch die Dominanz des
kognitiven Bereichs wird dem Schüler die Möglichkeit der
Selbstentfaltung im affektiven Bereich
S. 50
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genommen. Seine Subjektivität, sein eigenes
Erleben und Fühlen sind weitgehend nicht Teil der
Lernprozesse, die der Schüler in der heutigen Zeit mitmacht.
An diesem Punkt setzt die Gestalt-Pädagogik an.1
Sie möchte dem Schüler in der Schule mehr Möglichkeiten für
ein ganzheitliches Wachstum seiner Persönlichkeit bieten. In
diesem Bemühen steht sie Seite an Seite mit zwei ähnlichen,
anderen Ansätzen, die ebenfalls, wie die Gestalt-Pädagogik
selbst, aus der Bewegung der „humanistischen Psychologie“
kommen: es sind dies einmal die „themenzentrierte Interaktion
(TZI)" von Ruth Cohn2 und
zum
anderen die Arbeiten von Carl Rogers.3 Lernen wird
nach diesen Ansätzen ganzheitlich gesehen, es ist nicht nur
eine Sache des Kopfes und erschöpft sich auch nicht in
nachweisbaren Verhaltensänderungen: „Rogers unterscheidet zwei
Arten des Lernens: Ein Lernen, das ‚vom Hals ab aufwärts [...]
stattfindet und keine Relevanz für den ganzen Menschen, für
seine Gefühle, für seine Erfahrungen, für sein Selbstkonzept
hat, und ein ‚signifikantes Lernen‘, ein bedeutungsvolles, auf
Erfahrung beruhendes Lernen.“4 Ähnlich schreibt
Brown: „Integrative Erziehung ist im wesentlichen die Synthese
des affektiven (Empfindungen und Gefühle, Haltungen und Werte)
und des kognitiven Bereichs (Intellekt und die Tätigkeit des
Geistes in bezug auf Wissen). Integrative Erziehung beinhaltet
auch Lernerfahrungen, mit ihrer Wechselwirkung von Gefühl und
Verstand.“5
2. Gestalt-Pädagogik und
Fremdsprachenunterricht
In den USA gibt es Versuche im Rahmen der
“Confluent Education“ (etwa: Integrative Erziehung), das
eigene Erleben des Schülers in den Mittelpunkt des direkten
Fremdsprachenerwerbs zu stellen.6 Es handelt sich
dabei um eine Unterrichtsstrategie, „deren Hauptprinzip darin
besteht, dem Erfahrungsbereich des Schülers das zu entlocken,
was sie versprachlichen möchten oder dessen Versprachlichung
ihnen besondere Freude macht“7 Es wird also
versucht, beim Schüler den Wunsch, sich in der Fremdsprache
auszudrücken, zu wecken, indem der Unterricht an tatsächlichen
Bedürfnissen des Schülers ansetzt.
Der affektive Bereich ist ein wesentlicher
Bereich zwischenmenschlicher Interaktion. Indem das
persönliche Erleben des Schülers im Unterricht thematisiert
wird, lernt er, sich in und über diesen Bereich fremdsprachig
auszudrücken und erweitert so seine fremdsprachliche
Kompetenz; gleichzeitig erhält er die Möglichkeit, seine
Persönlichkeit bewußter zu erfahren, sich in seiner Ganzheit
wahrzunehmen, sich dem Erleben anderer Menschen stärker zu
öffnen und dadurch reichere Erfahrungen mit sich und anderen
zu machen. Dies ist eine wünschenswerte Entwicklung, gerade
wenn wir von der Schule fordern, sie solle dem Schüler beim
Wachstum und der Entfaltung seiner Ganzheit helfen. Der
Schüler wird dadurch zu umfassendem Lernen in die Lage
versetzt.
Dem Fremdsprachenunterricht eine
gestalt-pädagogische Orientierung zu geben, bedeutet also, den
fachspezifischen Interessen genauso dienlich zu sein wie
fächerübergreifenden Zielsetzungen, die eine optimalere
Selbstentfaltung des Schülers im Auge haben.
+++++++++++++++++++++++++++++++++
1. Weiterführende
Literatur zur Gestalt-Pädagogik s. Literaturverzeichnis (Seite
57).
2. s.
z. B. K. W. Vopel, „Lernen zwischen Thema und Interaktion. Die
Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn", in: H. G.
Petzold, G. I. Brown (Hgg.). Gestalt-Pädagogik.
Konzepte
einer
integrativen Erziehung.. München: Pfeiffer, 1977. S.
88ff. — D. Stollberg. Lernen, weil es Freude
macht. Eine Einführung in die Themenzentrierte
Interaktion. München: Kösel, 1982.
3. s.
z. B. W. Einsiedler, H. Härle (Hgg.). Schülerorientierter
Unterricht. Donauwörth: Auer, 1976.
4. A Riedel, „Pädagogische Absichten und
anthropologische Grundannahmen des schülerorientierten
Unterrichts", in: W. Einsiedler, H. Härle (Hgg.). Schülerorientierter
Unterricht , S. 39.
5. G. I. Brown,
„Menschlich sein heißt integrativ sein", in: H. G. Petzold, G.
I. Brown (Hgg.). Gestalt-Pädagogik, S. 38.
6. s.
dazu H. J. F. Schmitt, „Der ganze Schüler soll es sein", in: Die Neueren Sprachen 5/1976, S.438ff.
7. H.
J. F. Schmitt, „Der ganze Schüler ...", S. 438.
S. 51
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Innerhalb des Fremdsprachenunterrichts erscheint
mir das Gebiet der Lyrik für eine gestalt-pädagogische
Unterrichtspraxis besonders geeignet zu sein:
--
Gedichte stellen eine kleine, geschlossene und überschaubare
sprachliche Einheit dar;
--
Gedichte geben uns in verdichteter Form Einblick in die
Gefühls- und Erlebniswelt eines Dichters zu einer bestimmten
Zeit;
--
Gedichte sprechen daher auch unsere eigene Gefühls- und
Erlebniswelt an, sei es durch Ähnlichkeit oder Gegensätze;
-- Gedichte enthalten oft durch ihre sprachliche
Dichte Bereiche der Unbestimmtheit. der Andeutung, des
Nachhalls und ermöglichen uns dadurch, unser eigenes Erleben
und Fühlen im Gedicht wachzurufen.
Im Unterricht hat also der Schüler die
Möglichkeit, seine eigene Ganzheit mit der Ganzheit des
Gedichtes zu konfrontieren und beides im Wechselspiel zu
erleben.
Die vorherrschende Form der Gedichtbehandlung
als rein sprachliche Analyse gibt ihm diese Möglichkeit nicht.
Das Erleben des ursprünglich ganzen Gedichts geht dabei
verloren, denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile;
genauso erlebt der Schüler als Person selbst das Gedicht nicht
ganzheitlich, da er sich ihm nur kognitiv, auf dem Weg der
distanzierten Analyse nähert. Die Methoden der
Gestalt-Pädagogik weisen hier einen neuen Weg.
Um ausdrücklich Mißverständnissen vorzubeugen:
es geht nicht um eine Ersetzung der Textanalyse durch Methoden
der Gestalt-Pädagogik, sondern um eine Erweiterung der
traditionellen Verfahrensweise.
3. Gestalt-Pädagogik
konkret: die Phantasiereise
Ich möchte weitere theoretische Überlegungen
zunächst zurückstellen, um Ihnen einen praktischen Eindruck
von Gestalt-Pädagogik zu geben. Als Beispiel wähle ich eine
Methode, die ich für den Einsatz im Lyrikunterricht für
besonders geeignet halte: die Phantasiereise.
Bei der Phantasiereise führe ich die Schüler in
eine Phantasie, die im Zusammenhang mit dem Gedicht steht.
Dabei treffen sich Schüler und Gedicht erlebnismäßig. Dies
geschieht in einer zwangsfreien, entspannten Situation, in der
die Schüler wirklich sich selbst überlassen sind.
Hier ein Beispiel für die Einführung in eine
Phantasiereise. Ich habe diese Einführung bei der Behandlung
des Gedichtes “Kubla Khan“ von Samuel Taylor Coleridge8 in
einer Jahrgangsstufe 12, Leistungskurs Englisch, gegeben:
"I would like to take you on a
fantasy journey today. I‘ve already told you something about
it. It will be a journey in
your imagination and we will travel to Xanadu
and see what happens there. Is there anybody
who doesn‘t want to take part or who wants to say anything? ... No? ... O.K. ...
All right. Can we start?... Sit down
comfortably and relax; it‘s best to lean bock in the chair
because it helps you to breathe freely ... Watch your breath
now ... Just follow lt. notice how you are breathing in ...
and out ... Now we close our eyes ... We are still following
our breath, we are quiet and relaxed ... We can see a train in
front of us ... We get into it and find a seat ... Now the
train slowly starts moving ... It‘s moving faster now ... We
are travelling at top speed... The train takes US far away ...
We can look out of the window and watch the scenery pass
quickly ... (etwas längere Pause) ... Now the train gets slower... It stops now ... We
get off the train and look around, we are
+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++
8. S.
T. Coleridge, "Kubla Khan“, in: W. Hüllen, W. Schmidt-Hidding
(Hgg.). Learning
English. Book of English Verse. Stuttgart: Klett. 1967, 5. 42f.
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in Xanadu at last .. Walk around
and see what Xanadu is like, how you feel here, whom you may
meet ..."
Die Schüler haben jetzt ausreichend Zeit für
ihre eigenen Phantasieerlebnisse
in
Xanadu,
einem Ort des Gedichts.
----
"I' m sorry 1 have to tell you that
our time is almost over. Be prepared to get back to the train.
Find your way back to it now ... There‘s the train in front of
us again ... We get into it and find a seat . . The train
slowly starts moving ... It‘s getting quicker .. It will take
us back into the classroom ... And when we have reached this
room again we can open our eyes slowly ..."
Im Anschluß an die Phantasiereise bitte ich die
Schüler, ihre Phantasie zu erzählen, und zwar möglichst im
Präsens, um das aktuelle Erleben zu betonen. Ich fordere die
Schüler auf, nicht zu interpretieren, wenn sie zu der
Phantasie eines Mitschülers etwas sagen wollen.
Entsprechend den affektiven Lernzielen (s.
Abschnitt 4) steht die Bewußtheit über die eigenen Gefühle im
Zusammenhang mit dem Gedicht im Vordergrund, ebenso wie das
Akzeptieren des Erlebens des anderen in seiner Einmaligkeit.
Um zu illustrieren, wie das folgende
Unterrichtsgespräch aussehen kann, gebe ich hier zwei Auszüge
wieder, die dem Gespräch im Anschluß an diese Phantasiereise
entnommen sind:
S1: I was all
alone in the train. So 1 can‘t tell anything about the faces
of other people. I went on a mountain and it was very foggy, 1
couldn‘t really see what was happening down in the valley. 1
had expected it to be sunny, but then I saw the pleasure-dome
and it looked like the White House. I couldn‘t see clearly
through the fog. I saw the river but no caves
...
L: How did you
feel?
S1: Oh, I was
really sad because I wanted to go there and see everything,
and I wanted it to be sunny and warm and not grey as it is
here
L: You wanted
everything to change ...
S1: Yes I
couldn‘t see clearly. I didn‘t see anybody. One moment I was
near to the river but I could only see it through the fog.
L: Did you
like to go back to the train?
S1: Well, in a
way I liked to go back because there was nothing for me to
stay. But somehow I was sad and lonely
S2: I thought
the people in the train were going on a holiday to Spain and
everyone was happy hut when we came to Xanadu it was raining.
There was thunder and lightning when we arrived. I didn' t feel part of the people around me. I stayed
away from them ... The people, they were sad and angry because
the weather had changed ... and I felt amused ...
L: Because the
people were angry and you didn‘t mind.
S2: Yes ...
Then I went my own way. I came to the springs. It was
overwhelming, seeing it burst out of the
ground ... I felt happy ...
L: You would
have liked to stay there.
S2: Yes, of
course. Because the train takes you back to civilisation. The
place where I was was far away from everything which has
something to do with school and traffic and so on ...
[ ... ]
S3: My fantasy
was quite similar to what the others saw concerning the
landscape. In the beginning when the train was moving faster
it went up in a circle until it entered a sort of white-washed
room but only from outside — inside it was a green landscape.
You
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couldn‘t see any
walls. There were many different kinds of green. It looked
like an old romantic picture. I tried to imagine that this was
Xanadu but it was quite difficult. 1 walked around and saw the
dome — it looked like the White House. 1 didn' t see any sun.
I think the light came from the dome. It was bright and white;
and rays came from the dome. I think I went away then. I found
myself lying in the middle of a meadow; I had been sleeping.
Then we were called back... 1 didn‘t meet anybody else ...
L: You said that you
had felt like being in a different place, not really in
Xanadu.
S3: I‘m not sure about that.
L: How did you feel?
S3: Quite good.
Everything was calm. I didn‘t hear any noise. I was
interrupted by the plane (das zwischendurch über uns hinweg
geflogen war) but I imagined that it was a big animal ...
perhaps a dragon ... Thinking about it now — if I tried to
draw a picture of it, it might look like a Dali. On the other
hand the landscape was quite clear and real...
L: What did you like
best during the journey?
S3: The
calmness ... I think I was feeling quite easy ...
Am Anfang der Phantasiereise helfe ich den
Schülern durch meine Einleitung, sich zu entspannen und „mit
dem Zug" tiefer in sich selbst hineinzugelangen. Die
Konzentration auf den Atem leert den Geist und schafft so Raum
für das Auftauchen der Phantasie.
Meine Reaktion auf Schülerbeiträge im
anschließenden Gespräch ist möglichst nichtwertend und ohne
Interpretation; ich versuche auch, Fremdinterpretationen
anderer Schüler zu verhindern und weise darauf hin, daß jeder
nur selbst seine Phantasie interpretieren kann. Ich bemühe
mich hauptsächlich, das Erleben stärker ins Bewußtsein zu
heben und zu ermuntern, wenn ein Schüler im Redefluß stockt.
Wenn sich Äußerungen zu sehr im faktisch Berichtenden bewegen,
frage ich konkret nach den Gefühlen. Ich teile auch meine
eigene Phantasie mit, wenn ich das Gefühl habe, es könnte in
die Atmosphäre passen. Das wirkt oft als zusätzliche
Ermunterung, wenn die Arbeit mit der Phantasiereise noch
ungewohnt ist.
Ich glaube, daß diese Auszüge Ihnen einen ersten
Eindruck über den möglichen Charakter eines Gesprächs über die
„Reiseerlebnisse“ vermitteln. Es ist erkennbar, wie das
persönliche Erleben der Schüler im Vordergrund steht, ihre
subjektive Begegnung mit dem Gedicht als Ganzem und das, was
an Gefühlen, Phantasien und Erinnerungen ausgelöst wurde.
An dieser Stelle scheint es mir nun notwendig,
einige Bemerkungen zu den Lernzielen anzuschließen.
4.
Lernzielprobleme und mögliche affektive Lernziele
Wenn in einem gestalt-pädagogisch orientierten
Unterricht dem Schüler mehr Raum zur Selbstentfaltung zur
Verfügung gestellt wird, wenn er in seinem Subjekt-Sein
ernstgenommen werden soll, so verbietet es sich grundsätzlich,
ihn zum Objekt von Zielen zu machen, die durch den Lehrer
allein und ohne Einflußmöglichkeiten des Schülers festgelegt
werden. Dennoch glaube ich, daß ich auf Lernziele nicht
generell verzichten kann —aber sie sollten sich in ihrem
Charakter und in ihrem Entstehungsprozeß ändern.
Die Festlegung und Beschreibung der Lernziele
dient mir selbst dazu, Klarheit über meine konkreten Absichten
mit einer Unterrichtsreihe zu erlangen und mir eine
Orientierungshilfe während ihres Verlaufs zu bieten. Ihre
Systematik ermöglicht mir weiterhin eine Analyse des
durchgeführten Unterrichts im Nachhinein und in gewissem Maße
eine Überprüfung des Erreichten. Um den Schüler soweit wie
möglich aus der Objekt-Rolle herauszunehmen, lege ich jedoch
in einem Vorbereitungsgespräch zu der jeweiligen
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Reihe meine Absichten offen und stelle sie zur
Diskussion. Das gilt auch für den Einsatz
gestalt-pädagogischer Methoden. Ich halte dies besonders in
der Sekundarstufe II für notwendig, da ihr Einsatz einen
offensichtlichen Bruch zum traditionellen Unterricht darstellt
und ich mich auch unter Umständen mit Mißtrauen auf Seiten der
Schüler konfrontiert sehe. Eine gestalt-pädagogische
Ausrichtung des Unterrichts kann nur mit der Bereitschaft der
Schüler dazu entstehen. Vorbereitende und erklärende Worte
sind ebenfalls in der Sekundarstufe I erforderlich; die
Bereitschaft, sich auf das eigene Erleben einzulassen — und
zwar innerhalb der Schulsituation —‚ scheint mir hier jedoch
noch größer. Auf alle Fälle halte ich es für wichtig, deutlich
auf die Freiwilligkeit des Mitmachens hinzuweisen und keinen
Schüler zu Äußerungen zu drängen. Es verbietet sich u. a. auch
von daher, Schülerverhalten im Zusammenhang mit Unterricht,
der auf den affektiven Bereich abzielt, in die schulische
Bewertung eingehen zu lassen.
Abschließend stelle ich Ihnen einen Versuch vor,
affektive Lernziele zur Lyrikbehandlung zu definieren:
Die Schüler
— nehmen
ihre eigenen Gefühle beim Lesen eines Gedichts wahr,
— spüren,
daß ein Gedicht sie unter Umständen in ihren eigenen Gefühlen
und Erfahrungen berühren kann,
— erlangen
größere Bewußtheit über die Wirkung eines Gedichts als Ganzes
auf ihre Persönlichkeit,
— erfahren,
daß ein Gedicht ihr Bewußt-Sein schärfen und ihre
Selbstwahrnehmung sensibilisieren kann,
— erlangen
größere Bewußtheit über die Auswirkung distanzierter Analyse
auf ihr Gedichterleben,
— erfahren
ihre Gefühle, Phantasien und ihr subjektives Erleben als
bedeutenden Teil ihrer Persönlichkeit,
— lernen, sich mit ihren
Gefühlen allein oder im Gespräch mit anderen
beschreibend-verstehend auseinanderzusetzen,
— lernen,
den Eigenwert eines Gefühls oder einer Erfahrung eines
Mitschülers als Ausdruck seines lebendigen Selbst zu
akzeptieren,
— erleben
Lyrik als Form des Selbstausdrucks eines Menschen.
Als methodische Möglichkeit, diese Ziele zu
erreichen, habe ich Ihnen bisher die Phantasiereise
vorgestellt. Im folgenden mache ich nun weitere Vorschläge.
5. Weitere
Methoden der Gestalt-Pädagogik
a) Fragen zum Gedichterleben
Nach der Klärung des Textverständnisses lege ich
den Schülern einen kleinen Fragebogen vor, den sie auf
englisch beantworten:
How do you feel now after you have
read the poem?
How did you feel while you were
reading the poem?
Did anything in the poem remind you
of anything in your own life?
Would you like to read the poem
again?
Can you imagine a special situation
in your life in which you would like to read the poem again?
Dem Fragebogen geht ein ruhiges Lesen des Gedichtes durch die Schüler voraus. Anschließend frage ich die Schüler, ob jemand seine Antworten vorlesen mochte. Ich ermuntere die Schüler, mich nach unbekannten englischen Vokabeln zu fragen, die sie für ihre Antworten brauchen oder sie im Wörterbuch nachzuschlagen und fordere sie
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auf, eine Liste darüber anzulegen. So erweitern
sie im Laufe der Zeit ihren Wortschatz im Bereich des
fremdsprachlichen Selbstausdrucks.
b) Technik des leeren Stuhls
Ich bitte einen Schüler, den Dichter in seiner
Phantasie vor sich auf einen leeren Stuhl zu setzen und ein
Gespräch zu erfinden, wobei der Schüler abwechselnd den
Dichter spielt und er selbst ist. Es kann z.B. darum gehen,
wie der Schüler das Gedicht erlebt und wie der Dichter sich
gefühlt hat, als er das Gedicht schrieb. Dabei werden zwei
Stühle benutzt. Der Schüler wechselt entsprechend der Person,
die er gerade darstellt, die Stühle und spricht jeweils zu dem
fiktiven Partner auf dem leeren Stuhl.
Die gleiche Übung ist möglich mit Figuren und
Elementen aus dem Gedicht selbst, z. B. zwischen Kubla Khan
und dem Schüler als Leser; dies könnte sich so gestalten:
S (als Kubla Khan): I‘m Kubla Khan.
I' m glad that you‘ve read this poem about me.
S (als er selbst):
Yes, 1 really like it. It must be a wonderful place where you
are living. Can you tell me, if you like it, too?
S (als Kubla Khan): Well, ... usw.
Genauso vorstellbar sind Dialoge zwischen
unbelebten Elementen des Gedichts, z. B. zwischen Fluß und
Quelle, Fluß und Berg oder Höhle und Ozean.
Bei entsprechender Motivation und
Sprechfertigkeit läßt sich ein Gedicht auch in eine
dramatische Form überführen, in der verschiedene Schüler
verschiedene frei gewählte Identifikationen mit Figuren oder
Elementen des Gedichts vornehmen und in Kontakt treten und auf
diese Weise eine aus dem Gedicht und ihrer Persönlichkeit sich
ergebende dramatische Dynamik schaffen. Dies geht zwar über
die von mir in den Lernzielen festgelegte Intention hinaus,
erscheint mir jedoch als faszinierende Perspektive.
Im Anschluß an den Dialog reden wir gemeinsam
über das Geschehen, teilen unseren persönlichen Eindruck mit
und beschreiben, wie die Darstellung des Schülers auf uns
gewirkt hat. Außerdem können im Anschluß daran andere Schüler
ihre Version vorführen. Diese Übung läßt sich auch schriftlich
und damit von allen Schülern gleichzeitig durchführen.
In Abwandlung der Technik des leeren Stuhls
besteht die Möglichkeit einer reinen Identifikation mit einer
Figur oder einem Element. Die Schüler beschreiben sich dann
als diese Figur oder dieses Element, sie werden es praktisch
in ihrer Phantasie, z.B.:
S: I am
the sacred river. I like my cold, clear water. I am very old
and I‘ve seen how the pleasure-dome was built
Die Auswahl bleibt ihnen selbst überlassen. Im
Verlauf dieser Übung können wir wieder zum leeren Stuhl
zurückkehren, indem wir die Schüler fragen, ob es im Gedicht
ein anderes Element oder eine andere Figur gibt, der sie etwas
sagen möchten. So kann diese Übung unter Umständen als
Vorbereitung der dramatisierten Form mit mehreren Schülern
dienen.
Charakteristisch für all diese Übungen ist, daß
sie in der Begegnung mit dem Gedicht das ganzheitliche Erleben
der Schüler fördern, wobei in der dramatisierten Form mit
mehreren Schülern eine spontane, nicht vorhersagbare
Interaktion entsteht, die für alle Beteiligten eine
schöpferische Qualität besitzt.
6. Abschluß
Nun, am Ende dieses Beitrags, möchte ich Sie
zunächst bitten, behutsam zu sein, wenn Sie den affektiven
Bereich stärker in Ihren Unterricht einbeziehen wollen und
wirklich zu respektieren, wenn ein Schüler sich nicht
beteiligt. Ich habe selbst z.B. erlebt, daß
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ein Schüler zweimal nicht an der Phantasiereise
teilnahm. Es gab keinen Versuch, ihn zu überreden. Jede Form
von Zwang ist in einer Atmosphäre, in der Menschen ihr
persönliches Erleben teilen, fehl am Platze.
Was meine Erfahrungen betrifft, wenn ich
gestalt-pädagogische Methoden bei der Lyrik-Behandlung
einbezogen habe, so bin ich ziemlich sicher, daß die meisten
Schüler bewußt wahrgenommen haben, daß Lernen — zumindest in
bezug auf ein Gedicht — nicht nur Computerarbeit mittels
Gehirn ist und auch in der Schule nicht zu sein braucht. Ich
glaube weiter, daß allen klar geworden ist, daß Gedichte mehr
sind als „Schulstoff“, daß Gedichte uns in unseren eigenen
Gefühlen ansprechen und Gefühle in uns wachrufen können:
Gefühle, Erinnerungen, Phantasien, Leben. Vielleicht haben die
Schüler dadurch auch für sich eine neue Möglichkeit entdeckt,
Gedichte in ihr Leben einzubeziehen; ein vages „vielleicht“,
aber immerhin ...
Literaturverzeichnis:
G. I. Brown (Hg.). Gefühl und
Aktion. Frankfurt: Flach, 1978.
O.-A. Burow, K. Scherpp. Lernziel
Menschlichkeit. Gestalt-Pädagogik - eine Chance für Schule und Erziehung.. München:
Kösel. 1981.
W. Einsiedler, H. Härle (Hgg.). Schülerorientierter
Unterricht. Donauwörth: Auer, 1976.
V. Oaklander. Gestalttherapie mit
Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta, 1981.
H. G. Petzold, G. 1. Brown (Hgg.). Gestalt-Pädagogik.
Konzepte
einer integrativen Erziehung.. München:
Pfeiffer, 1977.
H. J. F. Schmitt, "Der ganze Schüler soll es
sein", in: Die Neueren Sprachen 5/1976, S.
438ff.
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©
Detlev Kranz, Hamburg 2019