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                                                                    Detlev Kranz

          Gestaltpädagogik mit arbeitslosen Jugendlichen in schulisch orientierten Maßnahmen

            (veröffentl. in: Die Deutsche Schule, 2/91, S. 239 – 253; Weinheim, Juventa Verlag)

 

Ich arbeite in Hamburg in einer Maßnahme für arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 25 Jahren, die alle keinen Hauptschulabschluß besitzen. Das Projekt besteht aus einem schulischen und einem berufsvorbereitenden Teil für die Bereiche Holz und Elektrotechnik.

Ich habe in einer ähnlich strukturierten Maßnahme in Westfalen gearbeitet, dort allerdings — neben meiner Lehrertätigkeit —  schwerpunktmäßig als sozialpädagogischer Betreuer.1

 

Die meisten Jugendlichen kommen mit einem schwierigen, problembeladenen psychosozialen Hintergrund in das Projekt. Z. B. stammen sie aus zerrissenen Familien oder haben in Heimen gelebt; teilweise gibt es Drogenprobleme; einige der Jugendlichen sind bereits in Konflikt mit dem Gesetz geraten und vorbestraft oder auf Bewährung entlassen. Einige Jugendliche haben die Schule abgebrochen oder sind lange Zeit nicht zum Unterricht gegangen (".Schulschwänzer“).

Als Gemeinsamkeiten in der persönlichen Geschichte finden wir in der Regel negative (schulische) Lernerfahrungen sowie negative Selbstattribuierungen, was die Lernfähigkeit im engeren (schulischen) wie auch im weiteren (Lebens-)Sinne betrifft.

Wie ein roter Faden durchzieht das Phänomen der Vermeidung das Verhalten der Jugendlichen; angefangen bei der tatsächlichen Vermeidung der Schule durch Abwesenheit über Vermeidung des Unterrichts durch „Unterrichtsstörungen“, durch Gespräche mit anderen Schülern, durch gedankliche Abwesenheit etc. bis hin zur Vermeidung des Stoffes, bestimmter Lernaufgaben oder der Vermeidung anderer Teilnehmer oder einzelner Teammitglieder usw.

Mehrheitlich gemeinsam ist den Jugendlichen eine unsichere Lebensperspektive, da sie ohne Hauptschulabschluß nur schwer zu einer Berufsausbildung - und damit zu größeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt - gelangen können.

Im Rahmen des Projekts erhalten die Jugendlichen eine Vorbereitung auf die (externe) Prüfung für den Hauptschulabschluß. und gleichzeitig werden sie auf eine Berufsausbildung und -tätigkeit hingeführt, indem sie grundlegende Kenntnisse und erste praktische Erfahrungen in den Bereichen Holz und Elektrotechnik erwerben.

 

Gestaltpädagogische Schwerpunktverlagerungen

Durch die und in der Arbeit mit den Jugendlichen hat sich meine Schwerpunktsetzung im Bereich von Gestaltpädagogik verschoben. Meine erste Erfahrung mit Gestaltpädagogik sammelte ich am Gymnasium. Dort

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bestand eine schulische Lernsituation, die geprägt war durch einseitige Betonung kognitiver Aspekte des Lernens mit einer Überbetonung analytischen Denkens unter Vernachlässigung der affektiven und sozialen Dimension von Lernen.

Entsprechend lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten ganzheitlichen Lernens und deren methodische Umsetzung.2

Durch die Erfahrungen mit den arbeitslosen Jugendlichen, mit ihrem spezifisch schwierigen psychosozialen Hintergrund, ihren aktuellen Lebensschwierigkeiten und ihrem Sozialverhalten gerieten andere Bereiche der Gestaltpädagogik für mich in den Vordergrund.

Eine Förderung ganzheitlichen Wachstums erscheint hier überhaupt nur möglich, wenn dem Problem der Vermeidung ausreichend Rechnung getragen, wenn parallel zur Aufhebung von Vermeidungshaltungen die Kontaktfähigkeit gefördert und mehr Selbstunterstützung und Selbstverantwortlichkeit aufgebaut werden.

So läßt sich meine Arbeit im Rahmen des Projekts aus gestaltpädagogischer Sicht als geprägt durch die Konzepte von „Vermeidung — Kontakt“, „Fremdunterstützung — Selbstunterstützung“, „Bewußtheit und Eigenverantwortlichkeit“ und deren praktische Umsetzung beschreiben.

 

Ganzheitliches Wachstum fördern heißt für mich innerhalb dieser Arbeit, den Jugendlichen gesellschaftliche und persönliche Mindestqualifikationen zu vermitteln, damit. sie auf einer sehr materiellen und existentiellen Ebene überhaupt in die Lage versetzt werden, am gesellschaftlichen Leben ausreichend befriedigend teilzunehmen und weitere Wachstumschancen zu erhalten; und zwar über eine einigermaßen ausgeprägte Kontaktfähigkeit im Bereich persönlicher Beziehungen und des Lernverhaltens sowie über formale gesellschaftliche Mindestanforderungen.

Meine ganz persönlichen Einflußmöglichkeiten bei den einzelnen Jugendlichen sind relativ gering — es ist wichtig, dies deutlich zu sehen —, aber sie sind vorhanden. Wenn ich keine überhöhten, unrealistischen Zielvorgaben mache, kann ich die „Erfolge“ meiner Arbeit durchaus schätzen. Es hängt sehr viel von der Perspektive ab.

Auf jeden Fall ist es für mich von besonderer Bedeutung, die Bewußtheit über das Eingewobensein der Teilnehmer und meiner selbst in vielfältige gesellschaftliche Prozesse aufrechtzuerhalten,   deren Brennpunkt unsere jeweilige persönliche Begegnung bildet.

 

Respektvoller Kontakt

Mit der Möglichkeit, vertrauensvollen, persönlichen Kontakt herzustellen, steht und fällt die Arbeit. Viele störende Verhaltensweisen, Provokationen, Vermeidungen etc. lassen sich entschärfen oder kommen erst gar nicht so stark zum Tragen, wenn der persönliche Kontakt vertrauensvoll und respektvoll aufgenommen und aufrechterhalten wird.

Wenn ich in diesem Kapital von Kontakt spreche, so meine ich zunächst den persönlichen Kontakt zwischen den einzelnen Teilnehmern und mir.

Unter „respektvoll“ verstehe ich eine Form des Kontakts. bei der ich dem Jugendlichen oder jungen Erwachsenen bejahend begegne; ich bejahe und

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akzeptiere ihn in seiner Art und Weise in der Welt zu sein und bringe dies zum Ausdruck, indem ich mich um Verstehen bemühe.

Ich bemühe mich, ihn und sein Verhalten, das er mir oder anderen Menschen entgegenbringt, zu verstehen, seine Welt kennenzulernen und ernst zu nehmen, auch wenn ich einzelne Verhaltensweisen im Rahmen des Projekts

  oder generell —  mißbillige, nicht akzeptieren will oder für schädlich halte. Diese Art von respektvollem Kontakt wird für den Jugendlichen oft erst im Einzelgespräch deutlich erlebbar; sie in der konkreten Unterrichtssituation zum Ausdruck zu bringen fällt weit schwerer, da das Feld in der Regel erheblich unruhiger ist, und die Kontaktepisoden relativ kurz bleiben. Manchmal gelingt es trotzdem; dabei kann schon eine Geste genügen:

Max3 fühlte sich von einer Aufgabe überfordert, ohne dies zugeben zu können. Er reagierte mit aggressivem Schimpfen und Verweigerung der Mitarbeit. Ich ging langsam und ruhig auf ihn zu und setzte mich vor seinem Platz in die Hocke; ich zeigte dadurch nach meinem Verständnis, daß ich in respektierender und „friedlicher“ Absicht kam, ohne „Druck“ machen zu wollen. Dies genügte, um ein Gespräch über die Aufgabe zu beginnen und Max eine erneute Kontaktaufnahme mit der Aufgabe zu erleichtern.

 

Auch wenn es ein hohes Ziel bleibt, bemühe ich mich, das Aufeinandertreffen mit meinen Schülern als existentielle Begegnung zu betrachten, —  so gut und so oft ich eben kann. Existenzelle Begegnung bedeutet für mich in diesem Zusammenhang, mir bewußt zu bleiben, daß hier zwei existentiell gleiche Menschen sich begegnen. Sowohl der Schüler als auch ich gehen einen oft mühsamen Weg durch unser Leben, auf der Suche nach Sinn, Liebe, Glück, Erfüllung oder was auch immer sonst. Und für keinen von uns gibt es irgendwelche Garantien. Jeder von uns wird irgendwann sterben, und jeder von uns gestaltet angesichts dieser Tatsache sein Leben.

Oft hilft mir dies, Ereignisse, Konflikte zu relativieren, mich im Umgang mit den Jugendlichen zu entspannen und aktuellen Zorn ein wenig verfliegen zu lassen.

 

Buber gebraucht für „existentielle Begegnung“ den Ausdruck „das Grundwort Ich-Du sprechen“: „Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche ich das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend.

Nicht Er oder Sie ist er, von anderen Er und Sie begrenzt, im Weltnetz aus Raum und Zeit eingetragener Punkte; ... sondern nachbarnlos und fugenlos ist er Du und füllt den Himmelskreis. Nicht als ob nichts anderes wäre als er: aber alles andere lebt in seinem Licht“ (Buber 1983, S. 15). Dies sind mächtige Worte, deren Verwirklichung im Alltag der Arbeit oft nicht erreichbar ist; dennoch behalte ich sie als Motto und Mahnung in meiner Erinnerung, und versuche eine Haltung zu entwickeln, in der ich mich dieser Position möglichst oft nähere.

Auf der Ebene der alltäglichen Arbeit gehört zu meinen Vorstellungen von respektvollem Kontakt auch ein zunächst grenzsetzendes Moment. Es geht um die Anredeform und meine Entscheidung, die Teilnehmer mit „Sie“ anzureden.

Eigentlich ist die gesellschaftlich übliche Anredeform bei Jugendlichen und

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jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 25 Jahren durchaus auch eher „Sie“. Da aber einige meiner Kollegen das „Du“ vorziehen, möcht e ich Gründe anführen, die aus meiner Sicht eine bewußte Entscheidung für das „Sie“ als Anrede unterstützen und sinnvoll erscheinen lassen.

Der erste und naheliegendste Grund liegt in der gerade erwähnten Tatsache, daß wir Jugendliche und junge Erwachsene in unserem Projekt aufnehmen, die ein Recht auf die Anrede „Sie“ besitzen und die diese Anrede in allen „offiziellen“ gesellschaftlichen Bereichen in der Regel entsprechend erfahren.

Weit wichtiger ist mir jedoch der tatsächliche Ausdruck von Respekt‚ den ich dem Jugendlichen als meinem Gegenüber entgegenbringe. Im „Sie“ steckt für mich, allein durch die Form, eine Achtung, die den Jugendlichen im Rang des gleichgestellten, respektierten menschlichen Wesens bestätigt, und dem ich auch die achtende, abstandhaltende Anrede „Sie“ entgegenbringe; anders als das „Du“ der Freunde und Kumpel von der Straße, der Eltern oder anderer, oft herabsetzender Erwachsener. Ich glaube, daß das „Du“ in der Erfahrungswelt des Jugendlichen sehr oft mit Respektlosigkeit dem Jugendlichen gegenüber gesprochen wird. Von daher möchte ich es nicht benutzen. Weiterhin möchte ich den Jugendlichen gerade möglichst oft auf der Erwachsenenebene ansprechen. Ich möchte — in der Sprache der Transaktionsanalyse — sein Erwachsenen-Ich fördern, ihn nicht aus der Verantwortlichkeit entlassen ‚dort, wo sie für ihn tragbar erscheint. Das „Sie“ ist Teil der Erwachsenenwelt.

 

Das „Sie“ stellt für beide Seiten ‚für mich wie für den Jugendlichen, auch eine kleine Form des Schutzes dar; es hat die Qualität eines abstandhaltenden Rituals, das über die Form eine anerkannte Grenze etabliert und Übergriffe, Überschreitungen erschwert. Ich glaube, daß auf diese Weise vertrauter Kontakt viel eher möglich wird, als durch das kumpelhafte, zu Konfluenz auffordernde „Du“.

Und in diesem Zusammenhang verbinde ich schließlich mit dem Gebrauch des „Sie“ die Hypothese, daß dadurch die Übertragungen aus den Elternbeziehungen o. ä. auf mich erschwert werden ‚da das „Sie“ die Elternbeziehungen nicht formal-sprachlich widerspiegelt. Mir ist es wichtig, die Übertragung herabzusetzen, soweit eben möglich; denn ich halte Übertragungssituationen im Rahmen meiner Arbeit für eher hinderlich. Der Kontakt auf der Erwachsenen-Ich-Ebene sollte zwischen mir und den Jugendlichen im Vordergrund stehen.

Außerdem halte ich es für bedeutsam, bewußt manchmal auch als der „andere“ zu erscheinen.

 

Kontakt und Vermeidung

Die Bereiche von Kontakt und Vermeidung bilden einen Schwerpunkt gestaltpädagogischer Arbeit mit den Jugendlichen des Projekts. Kontaktfähigkeit Kontaktaufnahme, Kontaktabbruch stehen in enger Wechselbezie­hung mit der Verlagerung der Kontaktgrenze, mit Bewußtsein im Feld, mit vorhandener oder mangelnder Selbstunterstützung (self-support), Angst, Zutrauen und Übernahme von Verantwortung.

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Perls, Hefferline und Goodman definieren Kontakt primär als „Wahrnehmung des assimilierbaren Neuen und Bewegung zu ihm hin sowie die Abwehr des unassimilierbaren Neuen ... Aller Kontakt ist kreative gegenseitige Anpassung von Organismus und Umwelt. Bewußtes Reagieren innerhalb des Feldes ... ist die Gewähr für Wachstum im Feld“ (Perls, Hefferline, Goodman 1951, S. 12).

Die Kontaktfähigkeit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen ich im Rahmen des Projekts arbeite, ist —  besonders in Bezug auf den Kontakt zu Lernsituationen im schulischen Rahmen — häufig eingeschränkt; und die Lernsituation kann in vielen Fällen als geprägt von Angst und mangelnder Selbstunterstützung bezeichnet werden. Der Ausweg der Jugendlichen aus diesen unsicheren und bedrohlich erlebten Situationen besteht dann in den unterschiedlichen Formen von Vermeidung.

Befriedigender Kontakt im Vordergrund ist generell nur möglich, wenn im Verlauf des Gestaltbildungsprozesses die nötige Selbstunterstützung parallel vorhanden ist (Laura Perls in: Rosenfeld 1982, S. 22).

Zu den zentralen Aufgaben unserer Arbeit auf einer weiteren pädagogischen Ebene zählt aus meiner Sicht die Erweiterung der Kontaktfähigkeit der Teilnehmer im engeren schulischen Sinne wie im weiteren Sinne, um ihnen größere Wachstumschancen für ihr Leben zu ermöglichen, soweit dies in unseren Kräften steht.

In Bezug auf den Hauptschulabschluß als Ziel unseres Projekts besteht die Aufgabe darin, die vielfältigen Vermeidungen der Schulsituation selbst wie der einzelnen Lernsituationen im Unterricht zu bearbeiten, indem wir Selbstunterstützung fördern. Das schließt ein die Arbeit an der Kontaktgrenze, die Übernahme von Verantwortung der Schüler für sich selbst und ihren Lernprozeß und die Förderung von mehr Bewußtheit über die jeweilige Situation.

Wie das konkret geschehen kann, beschreibe ich im weiteren Verlauf dieses Artikels.

 

Gehen wir davon aus, daß die Schüler sich oft nicht „sicher“ fühlen im Kontakt mit Lernsituationen, so bedeutet dies anders ausgedrückt, daß ihnen das Vertrauen fehlt „auf einen verläßlichen Halt, wie er aus vorangegangenen Erfahrungen entsteht, die assimiliert wurden und Wachstum brachten, ohne unabgeschlossene Situationen zu hinterlassen“ (Perls, Hefferline, Goodman 1951, S. 15).

 

Unabgeschlossene Situationen aus der bisherigen Schulzeit führen die meisten Jugendlichen reichlich mit sich; Vertrauen in ihre Fähigkeiten als verläßlichen Halt konnten viele von ihnen nicht oder nicht ausreichend entwickeln. Folglich nimmt die Neigung zu Kontaktabbruch zur Lernsituation umso mehr zu je länger erfolglos an einer Aufgabe gearbeitet wird; die Bereitschaft zur Kontaktvermeidung wächst je komplexer und damit unüberschaubarer die Aufgabe oder Lernsituation erscheint. Unüberschaubarkeit bedingt Uneinschätzbarkeit des möglichen Erfolges oder Mißerfolges. Und Mißerfolg ist die offensichtliche Oberfläche eines Komplexes, der aus einer langen Geschichte von Kränkungen Hilflosigkeit und Ohnmachtserfahrungen besteht und als offene Gestalt vermieden wird, da er nicht

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bewältigbar erscheint, denn eine ausreichende Selbstunterstützung fehlt oft oder scheint dem Erleben der Schüler nach zu fehlen.

 

Die umfassendste Form der Vermeidung bildet die Vermeidung des Schulortes durch Abwesenheit: Konrad besuchte zwar den Arbeitsteil der Maßnahme, nahm aber von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr am Unterricht teil. Unsere Beziehung war jedoch bereits vertrauensvoll genug, daß Konrad zu mir kam, um mit mir zu reden. Er war längere Zeit krank gewesen; in den ersten Tagen seines Schulbesuchs nach seiner Krankheit hatte er einen Eindruck von dem bekommen, was er an Schulstoff versäumt hatte, und er erlebte nun die ersten Tage so, daß er sich „dumm“ vorkam und befürchtete, von Lehrern und Mitschülern ebenfalls als „dumm“ angesehen zu werden. Er ging danach nur noch unregelmäßig zum Unterricht, erreichte daher den Anschluß noch weniger und blieb schließlich ganz weg.

In dieser Zeit entwickelte er nach eigener Darstellung Symptome, die ich als Schulangst bezeichnen möchte: Er fuhr zunächst zur Schule, fühlte sich auf dem Weg immer „mieser“ und kehrte um oder blieb in der Stadt. Zusammen mit dem Bewußtsein über die zunehmenden Lücken, die durch sein Fehlen entstanden, geriet Konrad in einen Teufelskreis. Je länger er fehlte, desto größer wurden seine Defizite, desto eher würde er „dumm“ dastehen, umso mehr Angst hatte er also, wieder zur Schule zu gehen, umso größer wurden weiter seine Lücken ... etc.

Ich war froh, daß Konrad überhaupt den Mut aufbrachte, zu mir zu kommen und mit mir zu sprechen. Er tat dies trotz offensichtlicher Angst und Anspannung.


Wie ich weiter mit Konrad gearbeitet habe, möchte ich an anderer Stelle ausführen. Hier geht es zunächst um die Vermeidung des Schulortes, die sich oft in Fehlzeiten und Krankmeldungen versteckt. Eine „mildere“ Form der Vermeidung des Ortes stellt zeitweises Verlassen des Unterrichts durch einzelne Schüler während des Tages dar.

Der Traum einer anderen Teilnehmerin, Monika, kann vielleicht als eine Projektion dieser Vermeidung betrachtet werden; — neben dem Auftauchen von Katastrophenerwartungen: Monika kam zu mir in ein Einzelgespräch sichtlich nervös und erzählte mir zunächst von ihrer familiären Situation und ihrer vorherigen Arbeitslosigkeit. Als ich sie auf ihre Nervosität ansprach, sagte sie, sie habe in der Nacht einen Traum gehabt, in dem ich sie zu mir gebeten hätte, um ihr mitzuteilen, daß sie die Maßnahme verlassen müsse. Der Traum brach ab, nachdem ich ihr dies gesagt hatte. Ich fragte sie ‚ob sie Lust hätte, jetzt ein Ende für den Traum zu erfinden. Sie war einverstanden und phantasierte als erstes ein düsteres Ende. Ich schlug ihr vor, auch als Alternative ein positives Ende zu erzählen. Im Anschluß daran fragte ich sie, welchen der beiden Teile sie behalten möchte, und sie antwortete: „Klar, den guten!“ Den anderen — sagte ich ihr — solle sie einfach in meinen Papierkorb werfen.

Monika erzählte im Anschluß an diese Episode von ihren früheren Schulerfahrungen und ihrer besonderen Angst vor Mathematik. Sie fürchtete sich aktuell vor dem zu schnellen Tempo des Mathematiklehrers. Für den Rest unseres Gesprächs war Monika erheblich ruhiger; und der Hinweis

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darauf, daß der düstere Ausgang des Traums doch in meinem Papierkorb liege, wurde im. weiteren Verlauf der Maßnahme eine Art ‚.running gag“ zwischen uns, immer wenn Monika sich mutlos fühlte.

 

Oft geschieht die Vermeidung einer Lernaufgabe entweder sofort zu Beginn oder erst im Verlauf der Bearbeitung der Aufgabe. Meist wird die Vermeidung sichtbar als direkte Weigerung, begleitet von Trotz oder Aggressivität. Trotz und Aggressivität wiederum dienen der Vermeidung von Gefühlen von Nicht-Können, Versagen oder Ohnmacht. Die Jugendlichen besitzen in diesen Fällen noch keine ausreichende Selbstunterstützung, um um Fremdunterstützung durch den Lehrer zu bitten und eventuell Spott der Mitschüler oder eigener schädlicher Introjekte zu ertragen oder zurückzuweisen.

Meine Aufgabe besteht dann darin, zunächst die Kontaktgrenze ins Bewußtsein zu heben, das bedeutet einerseits, dem Schüler Raum für die Ablehnung zu geben und seine damit verbundenen Gefühle und Vorstellungen auszudrücken, andererseits aber auch — wenn ein erneuter Kontakt zur Lernaufgabe gewagt wird —‚ die Grenze zu ermitteln, die zwischen vertrautem Können und beängstigendem Nicht-Können liegt. Indem der Schüler sagt, was er kann und was er nicht kann, übernimmt er Verantwortung für seinen Lernprozeß und schult seine Bewußtheit im Umgang mit Lernaufgaben. Indem er die Aufgabe erneut in Angriff nimmt, — u. U. mit meiner Vorbereitung und Begleitung — baut er mehr Selbstunterstützung auf und vergrößert seine weiteren Lernmöglichkeiten. Auf die Punkte Bewußtheit, Verantwortung und Selbstunterstützung werde ich mich später noch ausführlicher beziehen.

 

Der Ausgangspunkt der letzten Gedanken lag bei der Vermeidung von Lernaufgaben. ich habe bereits einmal Max erwähnt. Die Episode mit Max zeigt beispielhaft, wie Schüler oft auch Aufgaben oder Situationen vermeiden, die aus Lehrersicht durchaus bewältigbar für sie wären, da sie bereits genügend Selbstunterstützung in Form von Wissen, Fertigkeiten oder Lern- und Arbeitsmethoden besitzen. Sie vermeiden die Aufgabe in diesen Fällen allein auf Grund der Möglichkeit des Versagens und des mangelnden Vertrauens in die Kontinuität der eigenen Lernleistung sowie den Bestand einmal gewonnener Fertigkeiten. Die negativen Selbstattribuierungen sind dann immer noch zu mächtig.

Natürlich enthält jede neue Aufgabe die Möglichkeit, daß der Jugendliche sie nicht lösen kann. Erfolg ist eben nicht garantiert. Über lange Zeit hindurch kann punktuelle Erfolglosigkeit das zunehmende Vertrauen in sich selbst noch erheblich (im Erleben des Schülers in unberechenbarer Weise) erschüttern.

 

Aus meiner Sicht erleben die Schüler hier im kleinen Rahmen eine existentielle Konfrontation. Sie können sich der Tatsache bewußt werden, daß jeder neue Moment des Lebens geprägt wird von Unsicherheit über die weitere Entwicklung. daß es letztendlich keine Sicherheit gibt und aus einer bestimmten Sichtweise alles zufällig möglich ist. Unsicherheit, Zufälligkeit, Beliebigkeit von Ereignissen und damit also auch mögliche Diskontinuität unterstützender, vertrauenschaffender Strukturen haben die Jugendlichen

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in der Mehrheit aber schon allzu oft schmerzlich in ihrem Leben erfahren! Daß sie manchmal aufs schnellste vor dem Angebot einer solchen Möglichkeit davonrennen oder in präventive Aggression gehen, wird auf diesem Hintergrund sehr verständlich.

Einen Schutz gegen diese Retraumatisierung durch Versagenserlebnisse stellt der Aufbau eines Selbstbildes in der Form des „Ich kann das alles schon! Ich bin eigentlich ein guter Schüler“ dar. Damit verbunden wird der Satz:„Ich brauche so etwas nicht zu üben.“

 

Max beteiligte sich meist ohne Murren an leichten, kleinen und überschaubaren Arbeitsaufgaben, weigerte sich einmal jedoch strikt, eine komplexere Aufgabe im Bereich Textverständnis im Fach Deutsch zu lösen, die längeres konzentriertes Arbeiten gefordert hatte. Sein erster Kommentar war: „Son Schwachsinn!“, begleitet von aggressivem Schimpfen. Ich fragte ihn, was er gegen die Aufgabe habe, und seine Antwort lautet wieder: „Das ist doch Schwachsinn. Son Schwachsinn mach ich nicht.“ Ich ging — wie bereits erwähnt — langsam auf ihn zu, sagte freundlich: „Ganz ruhig, Max. Lassen Sie uns erst einmal sehen.“ Dann setzte ich mich vor seinem Platz in die Hocke, damit nicht der Eindruck entstehen konnte, ich wollte einem „aufsässigen“ Schüler „Druck“ machen (ich hatte mich offensichtlich unter ihn gestellt); und danach erklärte ich Max zunächst einmal die Bedeutung der Aufgabe, da eine ähnliche Aufgabe in der Prüfung gestellt werden würde, und es wichtig sei, daß er dies schon vorher übt. Dadurch wurde Max‘ Abneigung zwar nur geringfügig reduziert, aber wir kamen tatsächlich ins Gespräch über die Aufgabe.

 

Ich erklärte ihm zunächst meine Einschätzung seiner bereits vorhandenen Fähigkeiten und dann noch einmal die einzelnen Schritte der Aufgabenbearbeitung und unterstützte ihn, indem ich die ersten Lösungsschritte und Arbeitsvorgänge mit ihm gemeinsam machte. Max lieferte keine umfangrei­che Bearbeitung der Aufgabe ab, schaffte es aber, einige Zeit allein zu arbeiten und ein Minimum an Lösung anzubieten.

 

Max‘ Schutz in Form des „Ich kann das alles schon“-Vermeidungsmusters führte in anderen Fällen dazu, daß er auch bei neuem Stoff sich nicht konzentrierte, sich ablenkte und kaum dazu zu bewegen war, Unterrichtsstoff zu „pauken“. Aber hier beginnt ein Teufelskreis: Die Wahrnehmung des Neuen, noch nicht Beherrschten im Stoff läßt sich langfristig nicht vermeiden; das Selbstbild als Abwehr wird brüchiger, und die Gefahr zu versagen, es nicht zu schaffen, realer und auch erlebbarer für die Jugendlichen. Mit zunehmender Angst nimmt auch wieder die Vermeidung zu, und vielleicht erst jetzt läuft der Jugendliche wirklich Gefahr, den Anschluß zu verlieren und die Prüfung nicht zu bestehen.

Es ist daher von größter Bedeutung, solche Entwicklungen rechtzeitig zu bemerken und Alternativen anzubieten.

 

Neben der Vermeidung der Unterrichtssituation durch Abwesenheit und der Vermeidung der Lernaufgabe durch die Weigerung zu arbeiten, bleiben noch

zwei weitere, wichtige Vermeidungsformen zu erwähnen: die Vermeidung von Personen und die Vermeidung des Unterrichts durch das, was klassisch „Unterrichtsstörungen“ genannt wird.

Die Vermeidung von Personen, im wesentlichen einzelner oder aller

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Teammitglieder geschieht bei manchen Jugendlichen, wenn sie befürchten, ein Teammitglied. sei ärgerlich auf sie und ihnen nicht wohlgesonnen. Das kann soweit gehen, daß einzelne Jugendliche deshalb ganz dem Projekt fernbleiben. Sie sind in der Regel nicht in der Lage, nachzufragen, ob ein Teammitglied wirklich ärgerlich ist, und wenn ja, wie sehr. Manchmal bleiben Jugendliche in der Situation, vermeiden den Kontakt aber auf andere Weise:

 

Hans brach den Kontakt zu seinem Gegenüber ab, wenn er sehr wütend wurde, z. B. weil er sich ungerecht behandelt fühlte, indem er zwar in der Situation blieb, sich jedoch in länger anhaltendes Schimpfen begab. Dabei war er nicht mehr ansprechbar, konnte Einwände und Unterbrechungen nicht aufnehmen, sondern geriet mehr und mehr in Kontakt mit seiner Phantasie, aus der er das Material für sein Schimpfen nahm, ohne daß noch ein erkennbarer Bezug zur Ausgangssituation bestand. Das hervorstechende Moment dabei war nicht so sehr die oberflächlich erscheinende Aggressivität, sondern der teilweise tiefe Rückzug aus dem Kontakt mit der gegenüberstehenden Person; das Schimpfen diente Hans in dieser Situation als Schutz.

 

Auch die klassischen „Unterrichtsstörungen“ lassen sich mit dem Konzept der Vermeidung besser begreifen. Auf den ersten Blick erscheint die Situation in der Gruppe, im Unterricht oder in Besprechungen häufig geprägt durch Aggressivität, Wut und Provokation. Es ist wichtig, sich nicht täuschen zu lassen. Hinter diesen Phänomenen stecken vielschichtige und unterschiedliche Seelenzustände der Jugendlichen. Tatsächliche Böswilligkeit, Zerstörungswünsche oder Brutalität sind sehr selten.

 

„Viel Lärm um nichts“ ist es allerdings in der Regel auch nicht; oft dürfte es sich vielmehr um „Lautes Pfeifen im dunklen Wald“ handeln. Der „Lärm“ soll ablenken von Unsicherheit und Angst, und dient häufig dazu, ein daraus resultierendes Übermaß an Erregung auszuagieren, sich also persönlich zu entlasten. Die Mehrheit der Jugendlichen hat kaum genügend Selbstunterstützung, um ein erhöhtes Erregungsniveau längere Zeit zu ertragen.

 

Ein Teil der „Störungen“ lassen sich durchaus humorvoll verstehen. Ich erlebe dann Kleinsttheateraufführungen, die einen Platz im Varieté einnehmen könnten, als Clownerie oder als artistische, sportliche Aktion. Handwerklich-künstlerische Aspekte tauchen ebenfalls auf, z. B. beim Bemalen von Gegenständen, Jacken, Rucksäcken o. ä. Aber es gibt auch die andere Seite, die viel offensichtlicher schädigend oder zerstörerisch ist: angefangen bei lautem Rufen in die Klasse, gegenseitigem Beschimpfen, Beleidigen, Verletzen, Verspotten; lautem Lärmen, Klopfen, Umwerfen von Stühlen, durch die Klasse laufen bis hin zu eindeutigen Provokationen etc.

Auch hier wird vermieden, teilweise kollektiv. Auch wenn ich nicht immer gleich vermuten kann, was vermieden wird, ist es wichtig, Bewußtheit herzustellen über den Prozeß, der gerade abläuft. In irgendeiner Form spreche ich das Geschehen an; ist es kollektiv, äußere ich Vermutungen über Ursachen, die in der gegebenen Situation liegen könnten — und kann dadurch manchmal zu einem lösenden Gespräch kommen; oder ich „bestätige“ einfach, was geschieht, und gebe der „Störung" etwas mehr Raum. In

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seltenen Fällen entwickelt sich dies zu einer Situation von spontanem Karneval, dem Ausdruck gemäßigter, kollektiver „Verrücktheit“, in der ich mich an der allgemeinen Verrücktheit beteilige.

 

Aber auch hier ist es wichtig, sich nicht täuschen zu lassen: Nur selten hat das Ausagieren kathartische Wirkungen. Wenn dahinter Spannungen, Ängste und Übererregung stehen, brauchen die Jugendlichen in dieser Situation vielmehr Fremdunterstützung durch das Schaffen einer sicheren, überschaubaren Situation, die ein geschütztes Ausruhen ermöglicht, was immer das in dem Moment auch heißen mag.

Sie benötigen „Form“, einen Rahmen, in dem ihre Erregung Halt findet und zu Struktur werden kann, oder, mit anderen Worten, daß sich im bewegten Feld eine prägnante und stabile Figur bilden kann, so daß Sicherheit durch Klarheit und Überschaubarkeit entsteht.

Gehen die Unterrichtsstörungen eindeutig auf einen Jugendlichen zurück, spreche ich ihn gezielt in der Unterrichtsituation an, frage z. B., was los sei, was er möchte, ob er nicht mehr in der Lage sei, am Unterricht teilzunehmen, ob er eine Pause brauche usw. Ist die Situation zu komplex oder der Jugendliche nicht ansprechbar auf der Erwachsenen-Ich-Ebene, oder häufen sich Störungen eines Jugendlichen nach demselben Muster, führe ich mit dem Jugendlichen ein Einzelgespräch.

Dieses Einzelgespräch hat zum Ziel, mit dem Jugendlichen Wege zu erarbeiten, wie er sein Unterrichtsverhalten ändern kann, sofern es schädlich ist entweder für ihn selbst oder für die ganze Gruppe. Aus gestaltpädagogischer Sicht geht es dabei um Erhöhung der Bewußtheit, die Übernahme von Verantwortung und den Aufbau von Selbstunterstützung.

 

Verantwortung und Selbstunterstützung

Jeder erfolgreiche Kontakt ist abhängig von der Unterstützung, die im Organismus selbst oder im Rest des Feldes vorhanden ist. Reifen, persönliches Wachstum, im Sinne von Gestalttherapie und Gestaltpädagogik läßt sich definieren als die Umwandlung von möglichst viel Fremdunterstützung (also Unterstützung aus der Umwelt) in Selbstunterstützung (Perls 1966, S. 4). Mit zunehmender Selbstunterstützung wird der Mensch kontaktfähiger.

 

Die Schwierigkeiten, denen die Teilnehmer unseres Projekts im Zusammenhang mit fehlender und aufzubauender Selbstunterstützung begegnen, lassen sich in drei Bereiche gliedern:

 

1. Für die zu bearbeitenden Aufgaben (dies gilt nun sowohl für Lernaufgaben im engeren, schulischen Sinne als auch für Aufgaben im Bereich des Sozial- oder Beziehungsverhaltens) steht tatsächlich keine Selbstunterstützung zur Verfügung; z. B. ist das benötigte Wissen nicht vorhanden, die Lösungsstrategie nicht bekannt etc. Es liegen echte Defizite vor. Die Schüler brauchen also zunächst ein hohes Maß an Fremdunterstützung.

 

2. Für die zu bearbeitende Aufgabe steht ausreichende Selbstunterstützung zur Verfügung, der Grad an Neuem in der Aufgabe bewegt sich im Rahmen eines bewältigbaren wachstumsfördernden Hindernisses, aber der Schüler vermeidet im Einzelfall die Aufgabe aus Angst vor der Möglichkeit des

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Versagens. Er reagiert auf seine Katastrophenerwartungen und die noch unabgeschlossenen Gestalten von Verletzungen aus seiner bisherigen Lern- oder Lebensgeschichte. Er ist u. U. nicht in der Lage, zusätzliche Selbstunterstützung aus der Erinnerung an bereits erfolgreich verlaufene, neue Lernerfahrungen zu ziehen. Dann besteht die Fremdunterstützung des Lehrers hauptsächlich in der Hilfe bei der Aufhebung der Vermeidung und der neuen Kontaktaufnahme.

 

3. Für die zu bearbeitende Lernaufgabe steht ausreichend Selbstunterstützung zur Verfügung, aber der Schüler reagiert mit einem automatisierten Vermeidungs- und Manipulationsmuster. Die Vermeidung besteht in der Vermeidung des Kontaktes mit der Aufgabe und ihrer Bearbeitung. Vermieden wird dadurch die Mühe und Anstrengung des Arbeitsprozesses, des Durcharbeitens, des Aushaltens der Erregung im Laufe des Prozesses und das Ertragen der offenen Situation, an deren Ende der — während des Prozesses lange nicht sichtbar werdende — Erfolg oder Mißerfolg steht. Vermieden wird also gleichermaßen eine mögliche Retraumatisierung durch Erleben des Versagens als auch — in gestalttherapeutischer Terminologie — der Prozeß des „Kauens“, einem Teil der Assimilation.

 

Diesem Verhalten der Jugendlichen unseres Projekts zugrunde liegt einerseits die schnelle Bereitschaft, Lern-, Schul- und Unterrichtssituationen als bedrohlich zu empfinden und mit Katastrophenerwartungen zu reagieren andererseits die schnelle Ablehnung von Durcharbeitungsprozessen (des „Kauens“). — Es läßt sich im Unterricht sehr häufig das Phänomen beobachten, daß die Schüler den „Stoff“ in introjezierbarer Form wünschen, „schluckbar“, entsprechend leicht konsumierbarer, flüssiger Nahrung. Gewünscht wird also Konfluenz mit dem Lerngegenstand und Lernprozeß. Ich vermute, daß dieses Phänomen nicht nur auf die Schüler in unserem Projekt zutrifft.

 

Dort, wo nun längere Durcharbeitungsprozesse gefordert sind, tauchen sehr schnell automatisierte Vermeidungs- und Manipulationsmuster auf. Mit der Transaktionsanalyse könnte man diese Muster als „Spiele“ bezeichnen. Ich halte den Begriff jedoch in den meisten Fällen für unangemessen, da er den Ernst des Sachverhalts herunterspielt. Das Resultat dieses Verhaltens liegt nämlich für den einzelnen Jugendlichen in einer Blockierung seiner Wachstumsmöglichkeiten. Die Muster hindern ihn an der weiteren Entfaltung seines Potentials. Allerdings kann die Benutzung des Musters mehr oder weniger nah an der Bewußtheitsschwelle liegen, so daß in einigen Fällen die Anwendung des Begriffs „Spiel" nicht ganz unberechtigt ist.

Phänomenologisch geschieht folgendes: Der Jugendliche erhält eine Aufgabe oder wird mit einer Anforderung konfrontiert und sagt, ohne besondere, versuchsweise Annäherung an die Aufgabe oder Auseinander­setzung mit der Anforderung: „Das kann ich nicht!“ Er benutzt dann aus meiner Sicht das „Ich bin dummlhilflos“-Muster.

Das Muster entwickelt sich anschließend zum Schutz vor bedrohlichen neuen Situationen, da in dem Moment, in dem die Schüler „Ich kann das nicht.“ sagten, a) der Kontakt durch den Lehrer o. ä. abgebrochen wurde oder b) es ihnen gelang, ihre Umgebung in die Bewältigung der Arbeit an

 

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ihrer Stelle zu manipulieren. Der andere wird in die Rolle des „Helfers“ gedrängt — und es liegt an ihm, ob er sie in der vom Jugendlichen gewünschten Weise erfüllt.

 

Um es noch einmal zusagen, solange der oder die Jugendliche diese Muster benutzt oder/und in diesen Mustern unterstützt wird, bleibt eine tiefe Lernblockierung bestehen oder/und sie wird verstärkt. Allmählich verliert der Jugendliche die Vorstellung von seinen real vorhandenen Fähigkeiten, und sie oder er verliert die Fähigkeit, schwierige von zu schwierigen Aufgaben zu unterscheiden und kontrollierte, wachstumsfördernde Risiken einzugehen.

Um dieses Muster aufgeben zu können, brauchen Jugendliche die adäquate Fremdunterstützung durch Lehrer oder Betreuer. Die Fremdunterstützung setzt zunächst an zwei Punkten an: an der Bewußtheit über das Geschehen und seine Wirkungen und an der Übernahme von Verantwortung durch den Jugendlichen für sich selbst und seinen Lernprozeß.

Durch reinen Appell an Einsicht oder Vernunft lassen sich diese Verhaltensweisen der Jugendlichen kaum ändern, da sie mit tiefen und mächtigen Bedürfnissen nach Schutz, Sicherheit und persönlicher Integrität verknüpft sind.

Wir müssen den Jugendlichen also einen äußeren Rahmen und eine Anzahl von praktischen Hilfen zur Verfügung stellen, die ihnen ermöglichen, ihr Verhalten zu ändern und neues zu lernen. Der äußere Rahmen betrifft unsere Präsenz und Ansprechbarkeit als Einzelpersonen und — im Idealfall — den Aufbau einer wirklichen Gemeinschaft, in der die Teilnehmer gerne leben. Die praktischen Hilfen beginnen bei der Erhöhung der Bewußtheit, der Erleichterung der Übernahme von Verantwortung und der Förderung von mehr Selbstunterstützung.

 

Macht und Ohnmacht

Der Mangel an Selbstunterstützung erscheint manchmal auch in Form von Unterrichtsstörungen.5 Dabei empfinde ich die Störungen, die einen offensichtlichen aggressiv-provokativen Charakter haben als am schwierigsten. In diesen Auseinandersetzungen werden Machtfragen gestellt, und die Teilnehmer versuchen mich in den Machtkampf hineinzuziehen. Falls ich mich hineinziehen lasse, habe ich in den meisten Fällen bereits verloren, bevor die Auseinandersetzung wirklich beginnt. Mich nicht in den Kampf zu verstricken, fällt mir oft nicht leicht, besonders, wenn Jugendliche in verletzender, Schaden zufügender Weise provozieren.

 

Mir hilft es dann, daran zu denken, daß wahrscheinlich auch in diesem Verhalten eine Botschaft liegt, die durch das aktuelle Verhalten nur verzerrt vermittelt wird; dabei arbeite ich mit der Hypothese, daß dieses Verhalten ebenfalls eine Vermeidung darstellt, — und zwar letzten Endes eine Vermeidung der Erfahrung von Ohnmacht.

 

Leider führt mich dies oft an die Grenze von Überforderung. Wir arbeiten mit Gruppen von in der Regel 20—25 Teilnehmern. Eine provokative Aktion setzt sehr schnell andere Aktionen durch weitere Teilnehmer in Gang, so daß das Geschehen in kurzer Zeit eine Eigendynamik entwickeln kann, bei

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der die Auseinandersetzung mit einem Teilnehmer allein vor einem einigermaßen stabilen Gruppenhintergrund kaum mehr möglich ist.

Provokationen entstehen auch aus Konkurrenz um die Zuwendung des Lehrers. In meiner derzeitigen Gruppe kam es auf einmal zu unerwartet provokativem Verhalten bei Teilnehmern, die sonst ein eher ruhiges Unterrichtsverhalten zeigten. Erst nach einiger Zeit wurde uns im Team klar, daß diese Teilnehmer keine andere Möglichkeit mehr besaßen, sich gegenüber zwei sehr dominanten anderen Jugendlichen in den Aufmerksamkeitsvordergrund zu rücken.

In der Arbeit mit provokativem Verhalten reicht es manchmal, das Verhalten zu benennen, indem ich sage: „Sie wollen mich jetzt provozieren. “‚ mit Zusätzen wie „Worum geht es Ihnen im Moment?“ oder indem ich direkt frage: „Was wollen Sie von mir?“ Oft antworten die Jugendlichen zunächst stereotyp „Nichts“. Es ist dann wichtig, dabei zu bleiben und erneut zu fragen, u. U. mit dem Abschluß: „Sie möchten mir das also im Moment nicht sagen.“

Läßt sich die Episode in der Stunde nicht beenden, führe ich mit dem entsprechenden Jugendlichen ein Einzelgespräch außerhalb der Unterrichtszeit, wobei es mir dann darum geht, dem Jugendlichen zu Bewußtheit darüber zu verhelfen, wie er durch sein Verhalten sich selbst oder anderen Teilnehmern Schaden zufügt, oder wie er unsere Beziehung stört oder beeinträchtigt; und daß ich bereit bin, mit ihm herauszufinden, worum es ihm ging (was u. U. seine Botschaft an mich war), und wie er andere Wege lernen kann, in ähnlichen Situationen zu bekommen, was ihm fehlte.

 

Einige abschließende Bemerkungen zur Dynamik der Gruppe

Offene, unklar definierte Situationen bringen die Jugendlichen häufig an die Schwelle von Überforderung, da sie nicht genügend Selbstunterstützung besitzen, um die Situation von sich aus zu strukturieren, ihr Form, Ordnung und Sinn zu geben; also all das, was ein sicheres Bewegen ermöglicht. Da solche Situationen dazu geeignet sind, Ohnmachtserfahrungen zu reaktivieren, reagieren die Jugendlichen dann gereizt bis aggressiv, wenn die Situation von uns (den Teammitgliedern) nicht stärker geformt wird. Aggression stellt in diesem Fall u. a. eine Möglichkeit dar, die in die offene Gestalt fließende Erregung in überhaupt eine Ausdrucksform weiterfließen zu lassen, solange kein Weg gesehen wird, die Gestalt zu schließen.

 

Ein Beispiel: Als einmal Werkzeug aus der Werkstatt gestohlen worden war, riefen wir die Teilnehmer zusammen, legten das Problem dar und sagten, daß wir nicht akzeptieren könnten, wenn gestohlen würde, und daß wir nun gemeinsam nach Lösungen suchen wollten.

Die Teilnehmer reagierten von Anfang an aggressiv-gereizt, unterbrachen uns häufig, riefen laut durcheinander. Aus den Äußerungen wurde klar, daß sie sich (mehr oder weniger) alle beschuldigt fühlten, daß sie Druck erlebten, und daß sie das Gespräch abbrechen wollten.

Erst als wir die Aufregung und Gereiztheit ansprachen und klarstellten, daß wir nicht die Gruppe beschuldigten, daß wir uns vielmehr auch darüber im klaren wären, daß bis auf wahrscheinlich einen Teilnehmer alle anderen

 

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nichts mit dem Diebstahl zu tun hätten, wurde die Situation entspannter. Wir beendeten die Zusammenkunft, indem wir sagten, wir würden uns weiter im Team Gedanken machen, wie wir mit dem Problem umgehen könnten, und würden auch jeden einzelnen Jugendlichen bitten, darüber nachzudenken. In der Analyse erscheint die Aggressivität als Folge einer von uns unklar definierten Situation, die den Schülern viel Raum für Projektion und Fantasie ließ, die sie obendrein noch unter den Druck setzte, Lösungen zu finden für etwas, wofür wir selbst auch noch keine Lösungen sahen. Dabei waren unsere Erwartungen an sie unklar geblieben. Sie erlebten oder phantasierten (Über)- Forderungen auf die Lösung des Diebstahlproblems hin, fühlten sich hilflos und schützen sich durch aggressiv-gereiztes Ver­halten.

 

Die Gruppengröße von 20—25 Personen läßt häufig sehr komplexe Dynamiken entstehen, häufig — und oft auch recht schnell. Für mich als Lehrer entstehen dadurch Situationen an der Grenze der Überforderung, wenn ich eine einigermaßen angemessen Balance halten will zwischen meiner Auf­gabe der konkret-unterrichtlichen Wissens- und Fertigkeitsvermittlung auf der einen Seite und der Arbeit an der Dynamik der Gruppe auf der anderen. Seit kurzem praktiziere ich mit meiner Sozialpädagogik-Kollegin einen Weg, der diese An- oder Überforderung reduziert: Sie kommt häufiger mit in den Unterricht, und wir führen eine Art „gemeinsame Lerngruppenleitung“ mit unterschiedlichen Schwerpunkten durch, wobei dadurch keine Aufgabentrennung entsteht. Wir kommunizieren offen vor der Gruppe über das, was wir erleben, sprechen uns direkt in der Unterrichtssituation ab. Die Tatsache, daß wir beide einen gestalttherapeutischen Hintergrund haben, ist dabei sehr hilfreich.

Für die Jugendlichen entsteht durch unser Verhalten u. a. ein Erlebnis der Kooperation der Teammitglieder; sie erleben unsere Handlungen als überlegt, sinnvoll und unterstützend. Dadurch wachsen ihr Gefühl von Sicherheit in der Maßnahme und ihr Vertrauen in unsere Arbeit eine neues, kleines Stück.

 

Anmerkungen

1  Solche Hauptschulabschlußmaßnahmen existieren seit über 10 Jahren, s. dazu z.B. Ebert u. a. 1980.

2  s. Kranz 1983.

3  Alle Namen wurden verändert.

4  Ich danke meinem Freund Achim Votsmeier für wichtige Anregungen zur Arbeit mit Verträgen und zum Umgang mit provokativem Verhalten.

5           Unterrichtsstörungen als Vermeidung von Unterricht können natürlich auch — notabene —  bedeuten, daß der Schüler berechtigterweise Unterricht vermeidet, der „schlecht" ist. Bei „fehlerhafter“ Unterrichtsgestaltung durch den Lehrer sind solche Störungen durch veränderten Unterricht, nicht veränderte Schüler zu beheben! Diesen Aspekt bemühe ich mich, nicht aus den Augen zu verlieren.

 

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Literatur

Buber, M.: Ich und. Du. 1923. Heidelberg 1983.

Bugental, J. F. T.: The Search for Authenticity. An Existential-Analytical Approach to Psychotherapy. 1965, New York 1981.

Ebert, G. u. a.: Weiterbildung mit Arbeitslosen. Materialien für Kurse zur Vorbereitung auf die Hauptschulabschlußprüfung bzw. IHK-Prüfung im kaufmänn. Bereich (Projekt EMKA), 5 Bde. In: Berichte, Materialien, Planungshilfen, hrsg. v. d. Pädagogischen Arbeitsstelle d. Deutschen Volkshochschulverban­des, Frankfurt/M. 1980.

Kranz, D.: Gestaltpädagogik im Fremdsprachenunterricht. Zum Beispiel: Lyrik. In: PRAXIS des neusprachl. Unterrichts 1/1983, S. 50—57.

Latner, J.: The Gestalt Therapy Book. 1973, New York 1986.

Perls, F. S./Hefferline, R. F./Goodman. P.: Gestalt-Therapie. Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. 1951, Stuttgart 1979.

Perls, F.: Gestalt Therapy and Human Potentialities. 1966. in: Stevens, J. 0. (Hrsg.):Gestalt is. Moab, Utah 1975, S. 1—7.

Rosenfeld, E.: A Conversation with Laura Perls. In: Wysong, J./Rosenfeld, E. (Hrsg.): An Oral History of Gestalt Therapy. New York 1982, S. 3—25.

Tobin, S.: Wholeness and Self-Support. 1969/70. in: Stevens, J. 0. (Hrsg.): Gestalt is. Moab, Utah 1975, S. 129—147.

 

 

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