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© Detlev Kranz 1986, 2007
Detlev Kranz
Gestalt-Therapie
und Paradigmenwechsel.
Eine
Therapie am Ende des mechanistischen Zeitalters.
1986,
Unveröffentlichte Abschlußarbeit,
vorgelegt beim Gestalt
Education Network International (GENI), Frankfurt/M.
Auszüge
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Inhalt:
S. 3 A. Am
Anfang: Interessen, Wege, Wellen
S. 6 B.
Grenzsetzungen: Der Rahmen dieser Arbeit und ihr Grund
S. 7 C.
Wieder ein Anfang: Paradigmenwechsel, alt und neu,
Paradigmen und ihre Krisen
S. 10 Das alte Paradigma
S. 12 Das
neue
Paradigma
- Physik
S. 17 -
Systemtheorie
S. 20 D.
Damals:
Psychologie und Psychotherapie auf mechanistischem Boden:
u.a. Psychoanalyse
S. 23 E. Im Lichte der
Paradigmen: Grundkonzepte der Gestalt-Therapie,
Gestalt-Therapie in der Wendezeit
— die Anfänge
S. 26 Die grundlegenden
Einheiten:
S. 27 - Feld und Ganzheit
S. 32 - Organismus-Umwelt-Feld
S. 34 - Organismus
- organismische
Selbstregulierung
-
Figur/Grund-Geschehen / Gestaltbildungsprozeß
-
organismisches Gleichgewicht
S. 39 -
Theorie des Selbst
S.
43 Debatten:
- Latner, Yontef,
Wright
- Tobin, Yontef
S. 46 F. Alltag: Vom Nutzen der
Lichtgeschwindigkeit im Haushalt
S. 49 G. Ausblick:
Gestalten schließen und Tore öffnen sich, Menschen gehen
S. 51 H.
Literaturverzeichnis
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Gestalttherapie begründet
sich von ihren Anfängen an, 1941/42, im "neuen" Paradigma; also
in Feldtheorie, Prozeßorientierung und im Ganzheits-Konzept. Im
Gegensatz z. B. zur Psychoanalyse, die sich vom "alten",
mechanistischen Paradigma her definiert.
-7-
(...)
Zunächst jedoch gebe ich im
Rahmen dieser Arbeit den Paradigmen selbst und dem
Paradigmenwechsel mehr Raum. Ich stelle das alte und neue
Paradigma kurz vor und erläutere den Begriff der Krise eines
Paradigmas (Kap. C).
Zum besseren weiteren
Verständnis beschreibe ich Grundzüge mechanistischer Psychologie
und streife beispielhaft die Psychoanalyse (Kap. D).
Der wesentliche Abschnitt
dieser Arbeit befaßt sich mit Grundkonzepten der
Gestalt-Therapie im Lichte der Paradigmen. Ich gehe dabei vom
gesunden Organismus aus, behandle Begriffe wie
“Feld“, ‘Organismus‘,
“Ganzheit“, “Selbst“, "organismische Selbstregulierung",
"Figur-Grund-Geschehen", "Gestaltbildungsprozeß",
"Kontakt", "Bewußtheit" usw. (Kap. E)
und
untersuche diese Begriffe auf ihre Zugehörigkeit zum alten oder
neuen Paradigma.
Die Arbeit endet mit
Überlegungen zur alltäglichen Erfahrungsmöglichkeit dessen, was
das neue Paradigma meint (Kap. F) und mit einem persönlichen
Ausblick (Kap. G).
C. Wieder
ein Anfang: Paradigmenwechsel, alt und neu
Paradigmen und ihre
Krisen
In jeder Zeit gibt es
bestimmte Grundannahmen der Menschen über die Wirklichkeit, in
der sie leben. Diese Grundannahmen werden von der Mehrheit der
Menschen geteilt und prägen weite Teile des gesellschaftlichen
Lebens und der Wissenschaft.
1962 brachte Thomas S. Kuhn
in seinem Buch “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“
den Begriff des Paradigmas in die Diskussion7,
und meinte damit “die ganz fundamentalen Annahmen einer
Wissenschaft, ohne die der gesamte Überbau keinen Sinn haben
würde.“ 8 Inzwischen wird der Begriff “in einem viel
um-
--------------------------------------------------------------
7.
s. Lutz, R. : Das neue Weltbild der Physik, in: Journal
Zukunft, Juli 1980 (Erstausgabe), S. 58-66, hier S. 60.
8.
Lutz, a.a.O., S. 60.
-8-
fassenderen Sinn gebraucht,
der dem deutschen Wort W e 1 t a n
s c h a u u n g sehr
nahe kommt." 9 Marilyn Ferguson definiert: "Ein
Paradigma ist ein Gedankenrahmen (vom griechischen "paradeigma" : Muster)."10 Ich werde den
Begriff Paradigma in diesem umfassenden Sinn gebrauchen und
dabei stillschweigend davon ausgehen, daß sich ein solches
“Paradigma“ aus verschiedenen Grundbausteinen zusammenfügt. Ich
benutze das Wort also im Sinne von “Weltsicht/Weltbild“.
Nun gibt es durch die
Geschichte hindurch nicht nur ein einheitliches Weltbild, nicht
ein einheitliches Paradigma. “Die Menschheit hat viele
dramatische Revolutionen des Verständnisses durchlaufen - große
Sprünge, eine plötzliche Befreiung von alten Begrenzungen. Wir
entdeckten den Gebrauch des Feuers und das Rad, die Sprache und
die Schrift. Wir fanden heraus, daß die Erde nur flach z u s e i n s
c h e i n t, daß die Sonne nur die Erde zu umkreisen s c h e i n
t, daß Materie nur fest zu sein s c h e i nt.“11
Diese Neuentdeckungen nennt
Thomas Kuhn "Paradigmenwechsel". Sie bedeuten “eine dramatische
Veränderung in bezug auf die Gedanken, Wahrnehmungen und
Wertbegriffe, die ein besonderes Realitätsempfinden entstehen
lassen.“12 Durch eine Zeit der Krise hindurch, in
der die alten Muster immer häufiger die neu anfallenden Daten,
Ergebnisse, Phänomene nicht mehr befriedigend erklären können,
in der durch neue Information schließlich das alte Paradigma
grundsätzlich in Frage gestellt wird, durch eine solche
Krisenzeit hindurch entsteht schließlich ein neues Paradigma,
das sich wesentlich vom alten unterscheidet und eine neue
Weltsicht etabliert.
Für die Folgezeit ist dieses
neue Paradigma das herrschende Weltbild - alternative oder
kritische Entwürfe können sich nicht dagegen durchsetzen; bis
auch dieses Paradigma von zunehmenden Widersprüchen geprägt wird
und einem neuen weichen muß.
----------------------------------------------------------------------
9. Lutz,
a.a.O.,
S. 60.
10. Ferguson,
a.a.
0.,
S.
29.
11. Ferguson,
a.a.
0.,
S.
29.
12. Fritjof
Capra
im Vorwort zu Ferguson, a.a.0., S. 12
-9-
Der letzte
Paradigmenwechsel begann im 17. Jahrhundert, als das Weltbild
von der Erde als Scheibe und Zentrum der Welt zerbrach.
Kopernikus und Galilei zeigten, daß sich die Erde als Kugel um
die Sonne drehte. In der Folge entstanden die modernen
Naturwissenschaften; in der Philosophie begann die Phase der
Aufklärung; neue technische Entwicklungen führten schließlich
zur Industriellen Revolution. Ein neues Paradigma war geboren,
und eine bedeutende Rolle darin spielten die
Naturwissenschaften.
Doch dieses
Paradigma, das unser Denken und Handeln während der letzten
Jahrhunderte bestimmte, wird nun erneut in Frage gestellt, und
zwar wesentlich gerade durch diese Naturwissenschaften, speziell
durch die Physik. Wieder taucht ein neues Paradigma in
verschiedenen Bereichen auf und weist auf dramatische
Veränderungen in unserer Weltsicht und in unserem
In-der-Welt-Sein.
Wenn ich im
folgenden vom "Neuen Paradigma" spreche, so bedeutet dies nicht,
daß die dazugehörigen Konzepte nie vorher gedacht worden sind.
Im Gegenteil scheint es so zu sein, daß wir uns mit dem "Neuen
Paradigma" in einigen Bereichen mit alten Traditionen neu
treffen und sie weiterführen und integrieren können;13 z.B.
weist
Capra
auf
folgendes
hin:
"Es ist
interessant, der Entwicklung der westlichen Wissenschaft ihrem
gewundenen Pfad zu folgen, angefangen bei den mystischen
Philosophen der alten Griechen bis zu der eindrucksvoller
Entfaltung intellektueller Gedanken, die sich immer mehr von
ihren mystischen Ursprüngen entfernten, um eine Weltanschauung
zu entwickeln, die in scharfem Gegensatz zu der des Fernen
Ostens steht. In ihren jüngsten Stadien überwindet die westlich
Wissenschaft schließlich diese Ansicht und kehrt zu derjenigen
der alten Griechen und der östlichen Philosophien zurück. Dies
mal jedoch basiert sie nicht nur auf Intuition, sondern auch auf
sehr genauen, komplizierten Versuchen und auf streng formaler
mathematischer Logik."14
---------------------------------------------------------------------
13.
s. dazu auch kritisch: Berman, M. : Wiederverzauberung
der Welt. Am Ende des Newton‘schen Zeitalters,
1981, München 1984 (überarbeitet), S. 167 ff.
14. Capra,
Reigen,
a.a.O., S. 16.
-10-
Betrachten wir jedoch das
alte und das neue Paradigma ein wenig genauer:
Mit der Entdeckung, daß die
Erde eine Kugel ist, die um die Sonne kreist, war die Zeit des
Geozentrismus beendet. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt
der Welt, der Mensch nicht mehr das Zentrum des Universums.
Nikolaus Kopernikus vertrat als erster im 16. Jahrhundert diese
Anschauung. Ihm folgten Johannes Kepler und Galileo Galilei.
An der Ausformung des neuen
Weltbildes waren jedoch auch noch andere Personen maßgeblich
beteiligt: 15 Francis Bacon, René Descartes, Isaac
Newton.
“Descartes zeigte, daß die
Mathematik die prägnanteste Form der reinen Vernunft war, das
verläßlichste Wissen, das vorhanden war. Bacon wies darauf hin,
daß man die Natur unmittelbar befragen mußte, indem man sie in
eine Lage brachte, in der sie gezwungen war, ihre Antworten
preiszugeben. ... .Galileos Werk verdeutlichte die Verbindung
dieser beiden Hilfsmittel.“ 16
Mit Bacon erhielt die
Forderung nach experimenteller Untersuchung ein besonderes
Gewicht. Mit Galilei wurde die Aufmerksamkeit der
Wissenschaftler auf die quantifizierbaren Eigenschaften der
Materie gelenkt.17
Descartes untersuchte den
Menschen als denkendes Wesen, er befaßte sich mit dem Verstand
und entwickelte eine analytische Denkmethode. 18
“Diese Methode kann passend als ‘atomistisch‘ in dem Sinne
bezeichnet werden, daß Wissen darin besteht,
ein Ding in seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen. Das Wesen
des Atomismus, ob materiell oder philosophisch, liegt darin, daß
ein Ding aus der Summe seiner Teile besteht, nicht mehr und
nicht weniger. Und Descartes‘ Vermächtnis war sicherlich die
mechanistische Philosophie, die sich unmittelbar aus dieser
Methode ergab. 19
--------------------------------------------------------------------------
15. vergl.
hierzu:
Capra, F.: Wendezeit. Bausteine für ein neue Weltbild, 1982,
Bern, München, Wien 1985, S. 54 ff, weiterhin zit. als ‘Capra,
Wendezeit“. // Berman, a.a.0., S. 25 ff..
16. Berman, a.a.0., S. 26.
17. s. Capra, Wendezeit,
a.a.0., 5. 53.
18. s. Berman, a.a.0., S. 31
ff. Capra, Wendezeit, a.a.0.,S.58
-
11 -
Descartes entwickelte die
Vorstellung vom Universum als riesiger Maschine, gleichzeitig
trennte er Geist und Materie, Denken und Körper. Fortan sollte
dieser Dualismus unsere Weltanschauung bestimmen.
Descartes' Rationalismus und Bacons
Empirismus, die "als einander eher komplementär denn
als unwiderruflich gegensätzlich
gesehen werden" 20 müssen,
werden
von
Galilei
und Isaac
Newton in die Praxis umgesetzt.
Betrachten wir zusammenfassend
dieses neu entstandene Weltbild, wie es sich uns nach
Newtons Tod im Jahre 1727 darstellt:
- Es ist
grundlegend mechanistisch. Die Welt wird als Maschine gesehen.
Diese mechanistische Anschauung wird bereits durch Descartes
auch auf lebende Organismen übertragen.21
- Es besitzt
folgende Grundannahmen:
“1. Die
Vorstellung vom absoluten Raum und absoluter Zeit, sowie von
separaten materiellen Objekten, die sich in diesem Raum bewegen
und mechanisch aufeinander wirken;
2. Die Vorstellung von fundamentalen Kräften,
die sich von der Materie grundsätzlich unterscheiden;
3. Die Vorstellung von fundamentalen Gesetzen,
welche die Bewegungen und die wechselseitige Einwirkung der
materiellen Objekte quantitativ beschreiben;
4. Die Vorstellung von einem starren
Determinismus und einer auf der kartesianischen Unterscheidung
von Geist und Materie beruhenden Naturbeschreibung.“22
Der absolute Raum ist nach
Newton der dreidimensionale Raum der Euklidischen Geometrie; er
ist leer und unabhängig von den in ihm stattfindenden
physikalischen Ereignissen; Zeit wird als gleichförmig und
linear gesehen.
Die Objekte setzen sich aus
kleinsten Masseteilchen zusammen, die alle aus derselben
Substanz bestehen. Ihre Bewegungen entstehen aus der
Schwerkraft. Beschreiben lassen sich ihre Bewegungen durch die
Gesetze der Newtonschen Mechanik.23
------------------------------------------------------
19.
Berman, a.a.O., S. 31.
20.
Berman, a.a.O., S. 33.
21.
s. Capra, Wendezeit, a.a.O., S. 60.
22.
Capra, Wendezeit, a.a.O. ‚ S. 195.
23.
s. Capra, Wendezeit, a.a.O. ‚ S. 64 ff; s.a. Capra,
Reigen, a.a.O. ‚ S. 53 ff.
- 12 -
Die Objekte sind voneinander
unabhängig. Somit ist eine eindeutige Subjekt-Objekt-Trennung
möglich; Beobachter und Gegenstand sind voneinander getrennt, es
existiert eine objektive‘ Realität.24
Völlig trennbar sind auch
Geist und Körper, außerdem sind sie fundamental voneinander
verschieden. Descartes formuliert: “Der Körper enthält nichts,
was dem Geist zugerechnet werden könnte, und der Geist
beinhaltet nichts, was zum Körper gehörig wäre."25
Die universelle Maschine
arbeitet kausal und völlig determiniert. “Alles, was geschieht,
hat ... eine definitive Ursache und eine definitive Wirkung, und
die Zukunft eines jeden Teils des Systems könnte im Prinzip mit
absoluter Sicherheit vorausgesagt werden, wenn sein Zustand zu
irgendeiner Zeit in allen Einzelheiten bekannt wäre."26
Es bleiben schließlich noch
zwei Punkte, die erwähnt werden müssen: Grundlegend für dieses
Paradigma ist die analytische Methode, wie Descartes sie
dargelegt hat, und der Glaube an die Gewißheit der
wissenschaftlichen Erkenntnis: " ... und gerade hier, schon am
Ausgangspunkt, irrte Descartes. Die Physik des 20. Jahrhunderts
hat uns sehr deutlich gezeigt, daß es in der Wissenschaft keine
absolute Wahrheit gibt, daß alle unsere Vorstellungen und
Theorien nur begrenzt gültig sind und sich der Wirklichkeit nur
annähern.“27
Dies mag als Überleitung
dienen, um uns mit dem “Neuen Paradigma“ zu befassen, das dabei
ist, das alte, mechanistische abzulösen.
Das neue Paradigma liegt noch
nicht als eine einheitliche Konzeption, als geschlossenes
Weltbild vor. Vielmehr steuern unterschiedlichste
---------------------------------------------------------
24.
s. Lutz, a.a.0., S. 61.
25.
zit. nach Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 58.
26.
Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 66.
27.
Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 56.
- 13 -
Bereiche der Wissenschaften
neue Informationen und Erkenntnisse bei. Was uns zur Zeit
begegnet, ist ein schillerndes Bild, ein buntes Gebilde, das
bisher nur auf wenige gleiche Grundcharakteristika
zurückzuführen ist. Marilyn Ferguson und Fritjof Capra geben in
ihren Büchern darüber ausführlich Auskunft.28
Fritjof Capra nennt dementsprechend
sein Buch “Wendezeit“ im Untertitel "Bausteine für ein
neues Weltbild" (Hervorhebung von mir;
D.K.).
Wir erleben die Entstehung
einer alternativen oder umfassenderen Konzeption von Welt und
Wirklichkeit. Dabei ist oft noch nicht klar, inwieweit sich
diese Konzeption zur alten ausschließend, alternativ - also als
“entweder/oder“ -‚ oder umfassend, integrativ im Sinne eines
“sowohl/als auch“ verhält, abhängig vom Standort des
Betrachters. Das letzte scheint mir zur Zeit durchgängiger zu
sein.
Allgemein läßt sich
folgendermaßen formulieren: “Im Gegensatz zur mechanistischen,
kartesianischen Weltanschauung kann man die aus der modernen
Physik hervorgehende Weltanschauung mit Worten wie organisch,
ganzheitlich und ökologisch charakterisieren. . . . Das
Universum . . . muß als ein unteilbares, dynamisches Ganzes
beschrieben werden, dessen Teile auf ganz wesentliche Weise in
Wechselbeziehung stehen und nur als Strukturen eines Vorgangs
von kosmischen Dimensionen verstanden werden können.“29
Ich werde aus der Fülle der
“Bausteine“ die Bereiche Physik und Systemtheorie herausgreifen.
Mit der Entdeckung der
elektrischen und magnetischen Phänomene im 19. Jahrhundert stieß
das Newtonsche Weltbild an eine seine Grenzen. Maxwell und
Faraday ersetzten den Begriff “Kraft“ durch “Kraftfeld“.
1905 und 1915 überschritt
Albert Einstein mit der Formulierung der speziellen und
allgemeinen Relativitätstheorie diese Grenzen und betrat völlig
neue Räume der Physik.
-----------------------------------------------------
28.
s. Ferguson, Capra, a.a.O.
29.
Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 80.
(...)
-20-
(...) das neue Weltbild ist
primär dynamisch, prozeßorientiert; temporäre Strukturen
erscheinen als Aspekte von Prozeß; Zeit und Raum sind relativ;
und selbst unsere Erkenntnis über ein spezielles Phänomen ist
relativ und abhängig von der Betrachtungsebene oder der
Betrachtungsweise, die wir wählen.
(...)
(...)
-21-
(...)
Es war vor allem David Hume,
der die Assoziation zum zentralen Prinzip der Analyse
menschlichen Geistes machte; er betrachtete sie als ‘eine
Anziehungskraft in der geistigen Welt‘, die eine Rolle
vergleichbar der Schwerkraft im materiellen Newtonschen
Universum spielte. 52
Der Einfluß der Wissenschaft von den
Reflexen fand seine besondere Ausprägung im
Behaviorismus, der
Verhaltenspsychologie, seit Beginn des 20. Jahrhunderts. “Der
neurologische Reflex mit seiner eindeutigen Kausalbeziehung
zwischen Reiz und Reaktion und seiner maschinenhaften
Zuverlässigkeit schien der vielversprechendste unter den
elementaren Bausteinen zu sein, aus denen man sich die
komplexeren Verhaltensweisen zusammengesetzt dach.“53
Fritjof Capra betrachtet den Behaviorismus als Höhepunkt der
mechanistischen Methode.54
Allerdings war diese Richtung
der Psychologie nicht unumstritten. Auf der Grundlage eines
ganzheitlichen Ansatzes traten ihr der Funktionalismus und die
Gestalt-Theorie entgegen.
Nicht aus der psychologischen
Forschung, sondern aus dem Bereich psychiatrischer Tätigkeit,
aus der Arbeit mit hysterischen Patienten, entwickelte Sigmund
Freud seine Form der Psychotherapie: die Psychoanalyse. Capra
führt dazu aus:“ In dem Bemühen, eine wissenschaftliche Theorie
der Psyche und des menschlichen Verhaltens zu formulieren,
versuchte Freud soweit wie möglich die grundlegenden Begriffe
der klassischen Physik in seiner Beschreibung psychischer
Phänomene zu verwenden und auf diese Weise einen begrifflichen
Zusammenhang zwischen der Psychoanalyse und der Newtonschen
Mechanik herzustellen ... Zugleich
war sich Freud - anders als viele seine Jünger - der begrenzten
Geltung der naturwissenschaftlichen Modelle durchaus bewußt und
er-
-----------------------------------------------------------
52.
Capra, Wendezeit, a.a.0., S. 180.
53.
Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 181.
54. s. Capra, Wendezeit, a.a.0. ‚ S. 185.
-22-
wartete, daß die
Psychoanalyse im Lichte neuer Entwicklungen in anderen
Wissenschaften ständig modifiziert werden müßte.
Eine kurze Gegenüberstellung
einiger Grundbausteine der Newtonschen Mechanik mit einigen
Grundelementen der klassischen Freudschen Psychoanalyse kann die
mechanistische Orientierung der psychoanalytischen Theorie
verdeutlichen.56
Newtonsche Mechanik
Freudsche Psychoanalyse
===========================================
euklidischer Raum mit mate-
psychischer Raum,
riellen Objekten, an bestim-
psychischer Apparat mit “Ich‘,
ten Orten, mit bestimmter
‘Es“ und “Über-Ich‘ als loka-
Ausdehnung
lisierbare “Objekte“
-------------------------------------------------------------------------------
zwei Objekte können nicht
Freud: "Wo Es ist, soll Ich wer
gleichzeitig denselben
den.“; d.h. Ich und Es können
Raum einnehmen
nicht gleichzeitig am
selben
Ort sein
-------------------------------------------------------------------------------------
Kräfte, die von Objekten
z.B.: Das Ich ist ausgesetzt
auf Objekte wirken
den Trieben des Es und den
For-
derungen des Über-Ich
----------------------------------------------------------------------------------
paarweises Auftreten von
Trieb — Widerstand
Kräften
--------------------------------------------------------------------------------
objektiver wissenschaftlicher
Analytiker, für den Klienten
Beobachter
nicht sichtbar
So entwickelte sich die
Psychoanalyse auf dem Boden des alten Paradigmas, während in der
Psychologie, der Biologie und den Sozialwissenschaften
grundsätzlich andere Strömungen in Entstehung begriffen waren,
die sich um neue Grundkonzepte sammelten. Z.B.
- die Gestalt-Psychologie
mit ihren Untersuchungen zu “Ganzen“ und zu den Eigenschaften
der “Gestalten“;
----------------------------------------------------------------
55. Capra,
Wendezeit, a.a.O., S. 194.
56. nach
Capra, Wendezeit, a.a.O., S. 195.
— 23 —
- Kurt
Goldstein, mit der Betrachtung des Organismus als
Ganzheit und seiner Kritik des einfachen
Reiz-Reaktionsschemas57;
- und Kurt
Lewin mit seiner Feldtheorie.
Diese drei Richtungen sollten
in besonderem Maße in die Ausformung der Gestalt-Therapie
eingehen und ihr Entwicklungsmöglichkeiten zeigen für die
Bereiche, in denen sie Vorstellungen der Psychoanalyse
kritisierte und verließ.
Und damit sind wir an den
Punkt gelangt, wo wir im Rahmen dieser Arbeit zum ersten Mal der
Gestalt-Therapie selbst begegnen. Über die Darstellung des neuen
und des alten Paradigmas haben wir den Grund bereitet für die
folgenden Überlegungen; über die kurze Betrachtung von Elementen
mechanistischer Psychologie und Psychotherapie vor der
Entstehung der Gestalt-Therapie sind wir Strömungen und
Gegenströmungen begegnet, die schließlich dazu beitrugen, daß
sich diese neue Therapie innerhalb des angegebenen Feldes
ausdifferenzierte und Gestalt annahm.
E.
Im Lichte der Paradigmen: Grundkonzepte der
Gestalt-Therapie. Gestalt-Therapie in der Wendezeit -
die Anfänge
Die Gestalt-Therapie
formierte sich zu einer Zeit, in der sich einmal die
Psychoanalyse voll etabliert hatte und bereits neue
Therapierichtungen aus ihr und in der Auseinandersetzung mit ihr
entstanden waren (z.B. Adler, Jung, Reich), in der andererseits
Gestalttheorie und Feldtheorie in hoher Ausprägung existierten
und die Entdeckungen der neuen Physik breitere Wirkungen in der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung zeigten.
Jedoch ist die Entwicklung
der Gestalt-Therapie ohne die Psychoanalyse nicht zu denken.
Sowohl Fritz als auch Laura Perls war beide Psychoanalytiker,
und nach Laura Perls Angaben sahen sie sich auch beide noch als
Psychoanalytiker während der Entstehung von "Das Ich, der Hunger
und die Aggression" - wenn auch als “Revisionisten‘.58
------------------------------------------------------------------------------
57.
s. Goldstein, K. Der Aufbau des Organismus. Einführung in
die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen
am kranken Menschen, Den Haag 1934.
58.
Wysong, J./ Rosenfeld, E. (Hrsg.): An Oral History of
Gestalt Therapy. Interviews with Laura Perls, Isadore From,
Erving Polster, Miriam Polster, Highland, N.Y. 1982, S. 6. Perls, F.S. : Das Ich, der Hunger und
die Aggression, 1946, Stuttgart 1978; weiterhin zit. als “Perls,
Das Ich“.
-24-
Gleichzeitig hatten sie
Kontakt zur Gestalt-Psychologie und arbeiteten mit Kurt
Goldstein zusammen.
Betrachten wir diese zwei
Richtungen etwas genauer, denn sie prägen die entstehende
Gestalt-Therapie in bedeutender Weise und legen für ihre
Grundorientierung bestimmte, nicht-mechanistische Bahnen fest.
Eine der großen Bewegungen
innerhalb der Psychologie, die sich gegen atomistische
Auffassungen wandte, stellt die Gestalt- Psychologie
dar. Einer ihrer Kernsätze lautet, daß das Ganze mehr bzw. etwas
Anderes ist, als die Summe der Teile. Ein Objekt ist somit nicht
zu verstehen durch eine allgemeine Analyse seiner Bestandteile.
Entsprechend nimmt die Gestalt-Psychologie das “Ganze“ zum
Ausgangspunkt ihrer Forschungen. “Allgemein gilt: Ein Ganzes hat
eine Gestalteigenschaft (Metzger: Wesenseigenschaft), die
sich nicht von der spezifischen wechselseitigen Bezogenheit der
Teileigenschaften des Ganzen aufeinander (Metzger:
Struktureigenschaft, Tektonik, Gefüge) und der Beziehung
zwischen diesen und der Gestalteigenschaft des Ganzen (Metzger:
ganzbedingte Materialeigenschaften der Teile) losgelöst
wahrnehmen läßt.“59
Untersuchungsgegenstände der
Gestalttheorie sind u.a. “Gestalten“ als Gebilde, die anders
sind, als die Summe ihrer Teile; ihre Gliederung; ihre
Stabilität; ihre “Prägnanz“ als “ausgezeichnete und daher
beständige Ordnung“60; das Verhältnis einer Gestalt
als Figur im Vordergrund zum Hintergrund usw.
Kaum voneinander abgrenzen
lassen sich die Gestalttheorie und die Feldtheorie Kurt
Lewins. Walter fuhrt dazu aus: "
... ja
man könnte sogar sagen, daß die Gestalttheorie ihrer Natur nach
eine Feldtheorie ist. Das wird besonders deutlich bei der
Betrachtung der Definition, die Einstein für das ‘Feld‘
gibt (1934, nach Metzger, 1975, 5. 322): Eine Gesamtheit
gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig
voneinander abhängig begriffen werden, nennt man ein F e 1 d .'"61
Innerhalb
---------------------------------------------------------
59. Walter,
H.J.
:
Gestalttheorie
und Psychotherapie, Darmstadt
1977, S. 13.
60. Walter,
a.a.0. S. 25.
-25 –
eines solchen Feldes gibt es
keine ‘gegeneinander isolierten, unabhängig voneinander
bestehenden Bereiche."62
Kurt Lewin betrachtete das
Individuum als Teil seiner Umwelt und beide als Ausprägungen des
umschließenden Feldes.
Durch die Behandlung
hirnverletzter Soldaten war Kurt Goldstein zu neuen
Erkenntnissen über die Funktion des Organismus gelangt
Er forderte eine “ganzheitliche Methode“ der Erforschung der
Lebensvorgänge und wandte sie selbst auf den Organismus an.
Schwerpunkte seiner Arbeit bildeten u.a. das sog. organismische
Gleichgewicht und die Kritik der behavioristischen
Reflexbogentheorie, des einfachen Reiz-Reaktions-Musters.
Dazu stellte er fest: "Eine genauere Beobachtung lehrt, dass die
auf einen Reiz erfolgende Reaktion nicht nur variieren kann,
sondern dass der Vorgang sich nie in der isolierten Reaktion
erschöpft, dass vielmehr immer in verschiedener Weise w e i t e
r e G e b i e t e , j a d e r g a n z e O
r g a n i s m u s a n
d e r R e a k t i o n b e t e i l i g t
s i n d.“63
Die Kritik der
Reflexbogentheorie nimmt Fritz Perls im ersten Buch zur
Gestalt-Therapie genauso auf64, wie die Vorstellung
von Ganzheiten, ganzheitlicher Betrachtungsweise des Organismus
und den Feldbegriff. Perls kritisiert die
Assoziationspsychologie von der Basis der Feldtheorie und der
Gestaltpsychologie65 aus, und wendet sich gegen die
klassische kausale Erklärungsweise, von der er sagt, daß sie nur
für isolierte Ereignisketten66 gilt. Bei der
Erklärung, warum er mit der Anwendung des Gesetzes von Ursache
und Wirkung vorsichtig sein will, bezieht sich Perls explizit
auf die Entdeckungen Heisenbergs und Nordingers und die
Quantentheorie Plancks, also auf Bereiche der neuen Physik, des
Neuen Paradigmas.67
Diese Verbundenheit mit dem
Neuen Paradigma in der Abkehr vom klassischen kausalen Denken
hält Perls auch später noch aufrecht:
-----------------------------------------------------------
61.
Walter, a.a.O., S. 62.
62.
Walter, a.a.O. ‚ S. 61.
63.
Goldstein, a.a.O., S. 131.
64. s. Perls, Das Ich, a.a.O. ‚ S.
59ff, S. 239ff.
65.
s. Perls, Das Ich, a.a.O., S. 32ff.
66.
s. Perls, Das Ich, a.a.O., S. 27.
67.
s. Perls, Das Ich, a.a.O. ‚ S. 26 (Fußnote).
-26-
“Zu seiner (Freuds; D.K.)
Zeit war der naturwissenschaftliche Ansatz der der Kausalität,
daß die Schwierigkeiten durch irgend etwas in der Vergangenheit
v e r u r s a c h t wurden, so wie der Billiardstock den
Billiardball anstößt, und der Stock ist dann die Ursache dafür,
daß der Ball rollt. In der Zwischenzeit hat sich unsere
wissenschaftliche Haltung geändert. Wir sehen die Welt nicht
mehr in Begriffen von Ursache und Wirkung an:
Wir sehen die Welt als einen
kontinuierlichen Prozeß ... an wir sind - in der
Naturwissenschaft, aber leider noch nicht in der Psychiatrie -
von der linearen Kausalität zum Prozeßdenken, vom W a r u m zum
W i e übergegangen."68
Mit den soeben beschriebenen
Wissenschaftsrichtungen, Theorien und Denkmustern hatte die
entstehende Gestalt-Therapie eine Grundlage gefunden, die dem
Denken des Neuen Paradigmas entsprach. Die Konzepte, die sie für
ihre Theorie und Praxis auf dieser Grundlage entwickelte, waren
mit mechanistischen Vorstellungen nicht mehr zu vereinbaren.
Perls sah sich als
Feldtheoretiker; 1959 sagte er in einem Vortrag: “My ambition
has been to create a unified field theory in psychology." 69
Inwieweit ist es der
Gestalt-Therapie nun gelungen, Grundkonzepte zu entwickeln, die
auf dem Neuen Paradigma beruhen. Gehen wir ins Detail.
Zunächst möchte ich jedoch
erklären, wie ich zu der folgenden Auswahl der Konzepte gelangt
bin. Um eine angemessene Begrenzung für diese Arbeit zu finden,
habe ich mich auf den gesunden Organismus beschränkt.
Ausgangspunkt für meine Überlegungen sollten die umfassendsten
Einheiten sein, das sind offensichtlich die des Feldes
und der Ganzheit. Von da aus bin ich
--------------------------------------
68.
Perls, F.S. : Gestalt-Therapie in Aktion, 1969, Stuttgart
1976, S. 51; weiterhin zit. als “Perls, Aktion
69.
Perls, F.S. : Resolution, 1959, in: Gestalt is, hrsg. v.
J.O. Stevens, Moab, Utah 1975, S. 69 - 73, hier S. 69.
-27-
mit der Felddifferenzierung
weitergegangen. Das Feld erscheint bei genauer Betrachtung als Organismus-Umwelt-Feld.
Innerhalb dieses Rahmens kann ich nun Aussagen über den Organismus
machen,. seine Funktionen diskutieren und eine Theorie
des Selbst entwickeln. Auf diese Weise entstand
meine Auswahl, und beginnen werde ich nun mit dem “Feld“ und der
“Ganzheit“.
Betrachten wir Perls‘ “Das
Ich, der Hunger und die Aggression“ als Beginn der Entwicklung
der Gestalt-Therapie, so ist mit und seit diesem Buch das Denken
in Feldbegriffen Teil der Gestalt-Therapie. Bevor Perls zur
Kritik der Assoziationspsychologie übergeht, schreibt er: “Der
'Feld'-Begriff steht in direktem Gegensatz zur Auffassung der
herkömmlichen Wissenschaft, die die Realität immer als ein
Konglomerat isolierter Teile - eine Welt, die aus unzähligen
Teilchen und Stückchen zusammengesetzt ist - angesehen hat." 70
In diesem Satz formuliert
Perls ein für die Gestalt-Therapie wesentliches Anliegen,
nämlich die Zugrundelegung eines holistischen, also
ganzheitlichen Ansatzes in ihrer Theorie und Praxis dessen
Ausdruck in umfassendster Weise das Feld darstellt. 1951
erscheint das Buch “Gestalt-Therapie“ von Fritz Perls, Ralph
Hefferline und Paul Goodman71, in dem die Theorie der
Gestalt-Therapie ihre weitere Ausprägung erhält, und das laut
Latner in sich widerspruchfreier als “Das Ich, der Hunger und
die Aggression“ gestaltet ist und unverkennbar auf der
Feldtheorie beruht.72 So heißt es dort zu Beginn:
“Wir wollen das Wechselspiel von Organismus und Umwelt innerhalb
aller Funktionen das ‘Organismus-Umwelt-Feld‘ nennen; und wir
wollen im Sinn behalten, daß wir uns, wie auch immer wir über
Impulse, Triebe, usw. nachdenken, stets auf ein solches
Interaktionsfeld, nie auf ein isoliertes Wesen beziehen ... Der
Ansatz dieses Buches ist ‘ganzheitlich‘ in dem Sinne, daß wir
versuchen, j e d e s
---------------------------------------------------
70.
Perls, Das Ich, a.a.0. ‚ S. 33.
71.
Im Deutschen erscheint das Buch in zwei getrennten
Bänden;
Perls,
F.S./Hefferline, R./Goodman, P.: Gestalt-Therapie. Lebensfreude
und Persönlichkeitsentfaltung 1951, Stuttgart 1979
(Theorie-Teil), weiterhin zit. als “P/H/G“; und Perls,
F.S./Hefferline, R./Goodman, P.: Gestalt-Therapie.
Wiederbelebung des Selbst, 1951, Stuttgart 1979 (Übungs-Teil).
72.
s. Latner, Speed, a.a.O. ‚ S. 77.
-28-
Problem als Ereignis in einem
sozialen, sinnlichen oder physischen Feld zu betrachten."73
Man kann kaum deutlicher im
Sinne des Neuen Paradigmas Stellung beziehen. Wie konsequent
feldtheoretisch Perls/Hefferline/Goodman denken und formulieren,
zeigt sich an einem weiteren Beispiel, das mich, als ich dieses
Buch nun nach längerer Zeit noch einmal las, durch die Klarheit
und Eindeutigkeit der Position erneut begeisterte. Es geht
darum, wie wir uns den Kontakt von Organismus und Umwelt
vorzustellen haben:
"Die Kontaktgrenze aber, wo
die Erfahrung sich ereignet, steht nicht t r e n n e n d
zwischen Organismus und Umwelt, vielmehr begrenzt sie den
Organismus, umfängt und schützt ihn und berührt z u g l e i c h e r Z
e i t die Umwelt. D.h., um es ein wenig ungereimt auszudrücken:
Die Kontaktgrenze - zum Beispiel die fühlende Haut - ist nicht
so sehr Teil des ‘Organismus‘, wie sie
essentiell das Organ einer Beziehung von Organismus und Umwelt
ist . . . Kontakt ist Wahrnehmung des Feldes oder
Bewegungsreaktion innerhalb des Feldes."74
Latner macht deutlich, was
"Feld" bezogen auf den Menschen bedeuten kann. “Everything available to
us is in the field. lt
consists of our present capabilities, beliefs, resources,
interests. lt includes everything in the physical and psychic
world. lt also includes everything which has been part of our-
past and the part of the rest of the field. Our assimilated
experience is there
...
It
includes the potentialities of the field as well."75
So verstanden, wird das Feld
in der Sprache des Gestaltbildungsprozesses zum Grund, zum
Hintergrund aus dem heraus und dem gegenüber sich die Figur
bildet. Vom Standpunkt des einzelnen Menschen aus schließt das
Feld den organismischen Grund ein. Dieser organismische
Hintergrund, der sich mit jeder assimilierten und integrierten
Erfahrung ändert, bildet die Grundlage der Selbst-Unterstützung
des Organismus (“self-support‘; ein Konzept, das Laura Perls
entwickelt hat); es ist der “organismische Hintergrund, welcher
der jeweiligen Gestaltbildung im Vordergrund Bedeutung und der
Erregung des Grenzerlebnisses (d.h. des Kontakts D.K.) Stütze
verleiht.“76
--------------------------------------------------------------
73.
P/H/G, a.a.O. ‚ S. 10.
74.
P/H/G, a.a.O., S. 11.
75.
Latner, Kingdoms, a.a.O., S. 93.
- 29 -
Das Feld ist in jeder
Kontaktepisode von Bedeutung und mit seinem Potential als
Hintergrund präsent. Durch das Feld gehen auch Vergangenheit und
Zukunft in die gegenwärtige Situation ein. Die
“Hier-und-Jetzt-Orientierung der Gestalt-Therapie schließt also
Vergangenheit und Zukunft über das Feld ausdrücklich mit ein.
Diese Vorstellung wird bereits von Lewin formuliert:
“Nach L e w i n ist das
Verhalten eines Individuums von dem gegenwärtigen Feld bestimmt.
Dieses gegenwärtige Feld aber hängt nun nicht vollständig von
der gegenwärtigen Situation ab, sondern es wird von den
Hoffnungen und Wünschen des Individuums und durch seine
Ansichten über seine eigene Vergangenheit beeinflußt - durch die
Z e i t p e r s p e k t i v e. Die Wirkung der Vergangenheit und
der Zukunft geschieht also indirekt über das gegenwärtige Feld."77
1983 begann Joel Latner im
Gestalt Journal eine Debatte über die feldtheoretische
Orientierung der Gestalt-Therapie. Latner sieht zwei
Hauptströmungen in der Gestalt-Therapie, die - grob polarisiert
- auf zwei unterschiedlichen Weltbildern beruhen; oder, mit
anderen Worten ausgedrückt, die sich einerseits am alten,
andererseits am neuen Paradigma orientieren. Unglücklicherweise
bezeichnet Latner diesen Gegensatz als “Feldtheorie“ versus
“Systemtheorie“78 und wird dafür zu recht von Wright
und Yontef kritisiert:
Wright führt
u.a. aus: “Dr. Latner‘s thinking here is at best simplistic . .
. and seemingly uninformed by the writings of Brad Keeny . . .‚
Paul Dell . ..‚ Humberto
Maturana . . . and Gregory Bateson."79 Die neue
Systemtheorie in der Form von Jantschs Theorie der
Selbstorganisation gehört ebenfalls zum Bereich des Neuen
Paradigmas und eignet sich ausgezeichnet zu
nicht-mechanistischer Betrachtung von Organismen als lebende
Systeme.80
Yontef macht außerdem darauf
aufmerksam, daß es in der Physik noch keine einheitliche,
umfassende Feldtheorie gibt, sondern daß wir eher von
Feldtheorien für verschiedene Bereiche sprecher müssen 81
-------------------------------------------------------------------
76.
Laura Perls, zit. nach Votsmeier, a.a.O. S. 65.
77.
Walter, a.a.0., S. 66.
78. s.
Latner,
Speed, a.a.O. S. 72.
- 30 -
Wie dem auch sei, es ist
Latners Verdienst, eine meines Erachtens intellektuell
stimulierende und für die Entwicklung der Gestalt-Therapie
bedeutsame Diskussion in Gang gesetzt zu haben. Latner zeigt in
einer sprachlich detaillierten Analyse, wie in Erving und Miriam
Polsters Buch “Gestalttherapie"82 eine mechanistische
Vorstellung vom Feldbegriff und vom Begriff der Ich-Grenze
gebildet wird, 83 und dies im Gegensatz zu der
Darstellung bei Perls/Hefferline/Goodman. Latner sagt weiterhin,
daß diese mechanistische Orientierung auch in den theoretischen
Arbeiten aus dem Bereich des Gestalt-Instituts von Cleveland zu
finden ist und in einigen späteren Konzeptionen Perls‘, wie z.B.
die top-dog/under-dog ‘-Spaltung.84
Ohne hier im einzelnen auf
den Verlauf der Auseinandersetzung einzugehen, finde ich, daß
ihre größte Bedeutung in dem Hinweis auf die Notwendigkeit
liegt, uns der theoretischen Grundlagen der Gestalt-Therapie neu
bewußt zu werden und uns die Paradigmen in Erinnerung zu rufen,
die die Gestalt-Therapie konstituieren.
Jede Untersuchung anderer
Therapieformen oder theoretischer Entwicklungen, wie z.B. die
Objektsbeziehungs-Theorie, 85 auf ihre
Vereinbarkeit mit und
Integrierbarkeit in die Gestalt-Therapie, muß zunächst die Frage
klären, ob eine Übereinstimmung im grundlegenden Weltbild
besteht, sonst laufen wir Gefahr, Widersprüche, und
Unvereinbarkeiten zu erzeugen, die die Einheitlichkeit der
Gestalt-Therapie sprengen.
Zu diesem Zeitpunkt ist für
mich allerdings noch offen, inwieweit wir es tatsächlich mit
sich ausschließenden Standpunkten zu tun haben. Es liegt in der
Tradition mechanistischen Denkens, Gegensätze zu schaffen, in
der Form eines ‘entweder/oder', wo es vielleicht um
Komplementarität, um ein “sowohl/als auch“, geht, abhängig von
der jeweiligen Betrachtungsebene, die der "Betrachter“ wählt.
Und es kann notwendig sein, die unterschied-
--------------------------------------------------
79.
Wright, a.a.O. ‚ S. 76.
80.
vergl. Kap. C, S. 17ff, dieser Arbeit.
81.
s. Yontef, Modes, a.a.O., S. 48.
82.
Polster, E.-*-M. Gestalttherapie. Theorie und Praxis der
integrativen Gestalttherapie, 1973, München 1975.
83.
s. Latner, Speed, a.a.O., S. 78ff.
84.
s. Latner, Speed, a.a.O., S. 79.
85. s. dazu die Diskussion
zwischen Tobin und Yontef im Gestalt Journal 1983, die genau
diese grundlegenden Fragen betrifft. Yontef, G. The Self in
Gestalt Therapy: Reply to Tobin, in: Gestalt Journal, Bd VI, Nr.
1, 1983, Highland, N.Y., S.55-70; weiterhin zit. als “Yontef,
Self“. Tobin,
S.A.: Gestalt Therapy and the Self: Reply to Yontef, in: Gestalt
Journal, a.a.O., S. 71- 90.
-31-
lichen theoretischen Ansätze
mit den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Menschen in
Beziehung zu setzen. Dies ist ein Schluß, den Joel Latner aus
der Diskussion zieht:
“In fact, the
more I have thought about it ... the more I have become
convinced that the differences of approach which I outlined
exist because they actually complement each other. Each of them
has important strenghts and weaknesses which match with the
different requirements and sensibilities of the people involved
in Gestalt therapy . . . The result, though, is that entirely
different universes entiteled Gestalt therapy coexist."87
Wenn wir jedoch zurückkehren
zu den Anfängen der Gestalt-Therapie in der Form von Perls ‘Das
Ich, der Hunger und die Aggression‘ und
Perls/Hefferline/Goodman, so erscheint die Feldorientierung und
das Denken in Begriffen von Ganzheitlichkeit offensichtlich. Der
ganzheitliche Zugriff der Gestalt-Therapie auf die Welt und den
Menschen in ihr, entspricht der Weise, in der das Neue Paradigma
die Welt und den Menschen beschreibt. Capras Aussage “Die neue
Weltanschauung betrachtet das Universum als dynamisches Gewebe
zusammenhängender Vorgänge. Keine der Eigenschaften irgendeines
Teils dieses Gewebes ist fundamental ..."88 gilt auch
für die Gestalt-Therapie.
Indem die Gestalt-Therapie
den ganzheitlichen Ansatz auf den Menschen anwendet, überwindet
sie die tradierte Spaltung in Geist, Körper und Seele. Sie nimmt
damit u.a. die Arbeitsergebnisse Kurt Goldsteins auf, der zu
dieser Spaltung schreibt:
“Diese drei am menschlichen
Organismus zu beobachtenden Erscheinungen werden gewöhnlich
unter den Termini ‘Geist‘, ‘Seele‘ und ‘Körper‘ beschrieben. Es
ist dagegen nichts einzuwenden, wenn man sich darüber im Klaren
ist, das damit nicht drei isolierte Seinssphären gemeint sind,
die irgendwie sekundär miteinander Beziehung stehen, sondern
dass es sich bei dieser Charakterisierung um eine Abstraktion
handelt, jede von ihnen ein künstlich isoliertes Moment
organismischen Gesamtgeschehens darstellt Sie erscheinen als
Besonderheiten, weil jeweilig die eine oder andere mehr oder
weniger als ‘Figur‘ in den Vordergrund rückt,
-----------------------------------------------------------
86. s. dazu Kap.
F. ‚ S. 46 dieser Arbeit.
87. Latner,
Kingdoms,
a.a.O.
‚
S. 86.
88. Capra, Reigen. a.a.O. ‚
S. 286.
- 32 -
während die anderen dann den
Grund bilden.89
Die Vorstellung von der
Ganzheitlichkeit des Organismus ist in ihrer Zentralität für die
Gestalt-Therapie unumstritten.
Nach der Diskussion des
Begriffes "Feld" in seiner allgemeinen Form, liegt es nahe, das
"Feld" einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, und wir
finden, daß in der Gestalt-Therapie “Feld“ sich differenziert in
"Organismus-Umwelt-Feld". Dies in seiner speziellen
Funktionsweise unter dem Aspekt des alten und neuen Paradigmas
zu betrachten, wird Aufgabe des folgenden Abschnitts sein.
“Kein Organismus ist autark.
Er braucht die Welt zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Einen
Organismus für sich allein zu betrachten, bedeutet, daß man ihn
als eine künstlich isolierte Einheit ansieht, während in
Wirklichkeit immer eine Interdependenz zwischen dem Organismus
und seiner Umwelt besteht.“90 So schreibt Fritz
Perls, und an einer anderen Stelle formuliert er: “Eine Pflanze,
die aus ihrer Umwelt herausgenommen wird, kann nicht
weiterleben, und genausowenig kann es ein menschliches Wesen,
wenn man es aus seiner Umwelt herausnimmt, . .. Wir müssen also
stets den Ausschnitt der Welt, in dem wir leben, als Teil von
uns selbst betrachten. Wo immer wir hingehen, nehmen wir
irgendeine Welt mit.“91
Diese beiden Beschreibungen
des Organismus-Umwelt-Feldes gibt Perls zu unterschiedlichen
Zeitpunkten seinen Lebens.
Organismus und Umwelt sind
immer Differenzierungen des Gesamt-Feldes - und nicht
voneinander isolierbar, auch wenn der Organismus sich subjektiv
durchaus als getrennt von der Welt erleben kann.92
Wie sehr sich Perls um
Felddenken bemüht, geht auch aus einem weiteren Beispiel hervor.
Er schreibt im Zusammenhang mit “Projektionen“:
---------------------------------------------------------
89.
Goldstein, a.a.O., S. 206.
90.
Perls, Das Ich, a.a.O., S. 47.
91.
Perls, Aktion, a.a.O., S. 15.
92.
s. Perls, Das Ich, a.a.O. ‚ S. 47.
-33-
"Durch Projektionen verändern
wir das ganze ‘Umweltfeld‘ Nicht nur das ‘Umweltfeld‘ verändert
sich, sondern auch das ‘intraorganismische Feld‘. Innerhalb
dieses Feldes verwandelt sich 'Allmacht' in 'Ohnmacht'. Selbst
das ist nicht ganz richtig, denn in dieser Beschreibung
sind beide Veränderungen isoliert,
während in Wirklichkeit nur eine Veränderung
stattfindet, die die Aspekte des
‘Feldes Umwelt-intraorganismischer Bereich‘ umfaß.
(Hervorhebung von mir; D.K.)“93
In einer eindeutigen
Formulierung fassen Perls/Hefferline/Goodman die Einheit des
Organismus-Umwelt-Feldes zusammen: “Es gibt k e i n e Funktion
eines Lebewesens, die anders denn als Funktion eines solchen
Feldes zu definieren wäre."94
Wie nun haben wir uns dieses
spezielle Verhältnis von Organismus und Umwelt vorzustellen? Wir
treffen dabei auf die Begriffe Grenze, Kontakt
und Bewußtheit/Gewahrsein (das englische Wort ist
in beiden Fällen “awareness“, und es wird im Deutschen wahlweise
übersetzt).
Dort, wo sich Organismus und
Umwelt berühren, geschieht Kontakt. Im Kontakt mit der Umwelt
wirken beim Organismus Sinne, Bewegung und Gefühle zusammen.95
Die Grenze zwischen Organismus und Umwelt haben wir uns nicht
als etwas Trennendes vorzustellen; diese Kontaktgrenze "ist
nicht so sehr ein Teil des ‘Organismus‘, wie sie essentiell
das Organ einer besonderen Beziehung von Organismus und Umwelt
..."96 ist. Die Kontaktgrenze gehört also beidem an,
dem Organismus und der Umwelt. Im Kontakt erhält sich der
Organismus, erneuert sich und wächst. Das Ergebnis von Kontakt
ist Assimilation von Neuem und Wachstum - aus der Sicht des
Organismus.
Somit muß die Kontaktgrenze
Neues berühren, um den Organismus zu erhalten, dazu bedarf es
der “Wahrnehmung des assimilierbaren Neuen und der Bewegung zu
ihm hin, sowie die Abwehr des unassimilierbaren Neuen.“97
-------------------------------------------------------------------
93. Perls,
Das Ich, a.a.O. ‚ S. 286.
94.
P/H/G, a.a.O. ‚ S. 160.
95 P/H/G a.a.O.,
S. 10.
96: P/H/G
a.a.O., S. 11.
97. P/H/G,
a.a.O.,
S. 12.
-34-
Zwei Aspekte der
Kontaktgrenze werden deutlich: der des Gewahrseins und der des
Prozeßcharakters; denn die Kontaktgrenze ist flexibel.
Gewahrsein/Bewußtheit sind für den Organismus von besonderer
Bedeutung; sie ermöglichen ihm ein angemessenes Funktionieren im
Feld, angemessen bedeutet hier, ein Funktionieren, bei dem er
sich erhalten und wachsen kann. Und wieder meinen wir Bewußtheit
des Gesamtfeldes, also Bewußtheit der Umwelt und
Selbst-Bewußtheit des Organismus.
Im Kontakt fließen Bewußtheit
und Bewegung zusammen; und das, worauf sich der Kontakt richtet,
ist die "anregende Figur auf dem Hintergrund des
Organismus/Umwelt-Feldes."98
Mit den letzten Zeilen haben
wir uns mit dem Organismus-Umwelt-Feld aus der Sicht des
Organismus befaßt. Es ist folgerichtig, nun genauer zu
betrachten, wie der Organismus im Feld funktioniert, was der
Antrieb seiner Aktivität ist und schließlich, wie der Organismus
sich intern differenziert.
Bisher konnten wir
feststellen, daß die Gestalt-Therapie bei der Formulierung ihrer
grundlegendesten Betrachtungsebenen und Einheiten sich streng um
eine feldtheoretische und prozeßorientierte Theoriebildung
bemühte, zumindest in ihren Anfängen, und für die Kategorien
“Feld“ und “Organismus“ auch in Perls späteren Schriften. Das
macht die Rezeption und Assimilierung ihrer Theorie durch einen
mechanistisch gebildeten Leser nicht gerade leicht.
Mit der Anwendung des
Figur-Grund-Prozesses auf den Organismus und der Schaffung einer
dynamischen, prozeßorientierten Theorie des Selbst
behält die Gestalt-Therapie diese Richtung bei und setzt sich
weiter von mechanistischen Modellen ab. Die Theorie des
organismischen Gleichgewichts stellt sich allerdings etwas
problematisch dar.
In der Theorie der
Gestalt-Therapie ist das zentrale Merkmal des Organismus seine
Fähigkeit zur Selbstregulierung das bedeutet,
----------------------------------------------------
98. P/H/G,
a.a.O., 5. 13.
-35-
daß der Organismus in der
Lage ist, innerhalb des Feldes alle Prozesse, die zu seiner
Erhaltung und für sein Wachstum wichtig sind, selbst zu
regulieren. Die Fähigkeit der ‘organismischen Selbstregulierung‘
ermöglicht es dem Organismus, angemessen im Feld zu
funktionieren. 99
Die Art und Weise, wie der
Organismus sich selbst reguliert, wird beschrieben als Figur/Grund-Geschehen
oder als Gestaltbildungsprozeß. Sprechen wir vom
Figur/Grund-Geschehen, so beziehen wir uns auf die Dynamik von
Figur und Grund, benutzen wir den Begriff des
Gestaltbildungsprozesses, so liegt unser Schwerpunkt auf den
Gestalteigenschaften der Figur im Vordergrund.
Die Selbstregulierung über
die Gestaltbildung sei hier kurz erläutert; behalten wir dabei
in Erinnerung, daß es sich dabei um die Funktion des Organismus
im Feld handelt.
Bei der Vielzahl von
Bedürfnissen, auf die der Organismus zu reagieren hat, steht ihm
mit dem Gestaltbildungsprozeß ein Instrument zur Verfügung, das
die Bedürfniserledigung ordnet. Das für den Organismus jeweils
wichtigste Bedürfnis wird zur Gestalt, die in den Vordergrund
seiner Wahrnehmung rückt.
"Jede besonders drängende
Situation gewinnt Priorität und aktiviert alle verfügbaren
Kräfte, bis die Aufgabe erfüllt ist; dann wird sie uninteressant
und verliert sich aus dem Bewußtsein, und das nächste drängende
Bedürfnis verlangt Beachtung. Drängend wird ein Bedürfnis nicht
aufgrund von Planung, sondern spontan. "100
In gestalttheoretischer
Sprache ausgedrückt taucht mit dem entstehenden Bedürfnis eine
offene Gestalt aus dem Grund auf und wird im Vordergrund zur
Figur, und zwar solange, wie sie nicht geschlossen ist. Die
abgeschlossene Gestalt kann wieder in den Grund eintauchen und
einer neuen Gestalt Platz machen.
Aus der Sicht des Organismus
können wir dieses pulsierende Figur/Grund-Geschehen als
das lebendige Organismus-Umwelt-Feld selbst betrachten.
Der Gestaltbildungsprozeß wiederum kann auch
-----------------------------------------------------------------------------------
99.
zur “organismischen Selbstregulierung“ s.z.B., P/H/G,
a.a.O. S. 56ff.
100. P/H/G, a.a.0. ‚ S. 36.
- 36 -
als Prozeß steigender und
abnehmender Erregung beschrieben werden, parallel zum Zyklus
Vorkontakt, Kontakt und Rückzug des Organismus im Verlauf der
Gestaltschließung.
Fragen wir uns, was das
Figur/Grund-Geschehen aufrecht erhält, so gelangen wir zum
Begriff der Bedürfnisse des Organismus. Diese Bedürfnisse
versteht Perls als Mangelzustände des Organismus.102
Das Figur/Grund-Geschehen ist also zu begreifen als Beschreibung
des Weges, auf dem der Organismus den Mangelzustand wieder
ausgleicht.
Perls geht davon aus, daß die
Wiederherstellung des inneren Gleichgewichtszustandes
das Grundbestreben des Organismus ausmacht. "Die
Plus-und-Minus-Funktionen des Stoffwechsels stellen das Wirken
der Grundtendenz eines jeden Organismus dar, nach Gleichgewicht
zu streben. Es besteht jeden Augenblick die Möglichkeit, daß
irgendein Geschehen das Gleichgewicht des Organismus stört, und
gleichzeitig erhebt sich eine Gegentendenz, es
wiederzuerlangen."102
Die Erhaltung des
Gleichgewichts im Organismus wird auch als Homöostase
bezeichnet. “Der homöostatische Prozeß ist der Vorgang, durch
den der Organismus sein Gleichgewicht und dadurch seine
Gesundheit unter wechselnden Bedingungen aufrechterhält.“103
Im Mittelpunkt von “Das Ich,
der Hunger und die Aggression“ steht für Perls die Theorie, das
der Organismus nach der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts
strebt.104
Gerade diese Theorie ist aber
in der oben genannten Formulierung problematisch und wurde
bereits vor Perls von Kurt Goldstein kritisiert. Mittlerweile
entstand eine zusätzliche Kritik des Homöostase-Konzepts aus
einem Bereich des Neuen Paradigmas, der Theorie der
Selbstorganisation. Mit diesen Ansätzen möchte ich mich im
folgenden kurz beschäftigen.
----------------------------------------------------------------------
101. Perls, Das Ich, a.a.O., S. 39ff.
102. Per]s, Das Ich, a.a.0., S. 43.
103. F.Perls zit. nach Votsmeier,
a.a.0., S. 57.
104. s. Perls, Das Ich, a.a.O. ‚ S. 13;
zu der folgenden Diskussion vergl. Goldstein, a.a.0., und
Votsmeier, a.a.O.
-37-
Kurt Goldsteins zentrale
Aussage lautet, daß der Organismus nicht einem
Gleichgewichtszustand im Sinne eines Ruhezustands zustrebt.
Vielmehr befindet sich das Nervensystem “nie in Ruhe, sondern in
einer dauernden E r r e g u n g.“105 Die Verteilung
der Erregung im Organismus geschieht nach dem
Figur/Grund-Prinzip. Die Teile des Organismus, die zur
Bewältigung einer Aufgabe von besonderer Bedeutung sind, stehen
im Vordergrund.
Diese Aufgaben wiederum
“werden durch die ‘Natur‘ des Organismus, sein ‘Wesen‘ bestimmt,
das durch die Umweltänderungen, die auf ihn wirken, zur
Verwirklichung gebracht werden. Der Ausdruck dieser
Verwirklichung sind die Leistungen des Organismus.“106
Hier ist zu beachten, daß
Goldstein - im Gegensatz zu Perls - davon ausgeht, daß das
Bedürfnis in den Vordergrund gelangt, was für die Verwirklichung
des “Wesens“ einer Person am bedeutendsten ist,
und nicht - wie Perls annimmt - für die Erhaltung des Organismus.
In der Auseinandersetzung mit
der Umwelt besteht die Notwendigkeit, daß “jede, durch die
Umweltreize gesetzte Veränderung des Organismus i n e i n e r b
e s t i m m t e n Z e i t s i c h w
i e d e r a u s g l e i c h t, so dass der Organismus wieder in
jenen ‘mittleren‘ Zustand der Erregung, der seinem Wesen
entspricht, diesem ‘adäquat‘ ist, zurückgelangt.“107
An anderer Stelle spricht
Goldstein davon, daß die Reaktion auf einen Umweltreiz, der
starke Anspannung auslöst, nicht die völlige Entspannung ist,
sondern die Rückkehr zu einer “mittleren Spannung“.108
Typisch für den Organismus
ist also nach Goldstein ein mittleres Erregungsniveau oder, mit
anderen Worten, ein Zustand mittlerer Unruhe.
Die Annahme eines Moments
völliger Ruhe des Organismus im Feld ist auch durch folgende
überlegung nicht haltbar: “Da ja der
---------------------------------------------------------------
105. Goldstein, a.a.O., S.
69.
106. Goldstein, a.a.O.,
S. 75.
107. Goldstein,
a.a.O., S. 75.
108. Goldstein,
a.a.O., S. 77.
-38-
Organismus nie in völlig
adäquate. Milieu leben kann, sondern sich immer gegen inadäquate
Reize, ... , durchsetzen muß, so erfolgen die Reaktionen ja kaum
je so, dass es zu einer idealen Organismus-Welt adäquaten
Figurbildung kommt, die Ruhe für den
Organismus und die Welt bedeutete,
sondern fast immer besteht doch ein
gewisses Ungleichgewicht, das auf Seiten des
Organismus durch die entgegengesetzte Phase zum Ausgleich
gebracht wird ... (Hervorhebung von mir; D.K.)."109
Wenn nun Perls‘ Konzept des
organismischen Gleichgewichts auf der Vorstellung eines
tatsächlich zu erreichenden
Ruhezustands basiert, so widerlegen Goldsteins Untersuchungen
zumindest für den Bereich des
Nervensystems und der Reizverarbeitung diese Annahme.
Allerdings scheint mir nicht eindeutig,
wie Perls dieses Konzept versteht. Deutlich wird
einerseits, daß er eine
Gleichgewichtsvorstellung entwickelt, bei der sich Plus-Minus-
Funktionen um einen Nullpunkt
differenzieren.110
Andererseits erwähnt er als
Nullpunkt des Stoffwechsels den Grundumsatz, also den normalen
Stoffwechsel im Gegensatz zum gesteigerten oder verminderten
Stoffwechsel.111 Wird hier der Grundumsatz als
Gleichgewicht angesehen, so bezeichnet Perls in diesem Fall
damit eine Dynamik und nicht einen Ruhezustand.
Wie bereits in Kapitel C
beschrieben gehört zum Neuen Paradigma die Theorie der
Selbstorganisation als Weiterentwicklung der Allgemeinen
Systemtheorie hin “zu einer Allgemeinen Dynamischen
Systemtheorie ‚ die den Akzent auf System-Evolution,
schöpferischen Wandel und Differenzierung legt."112
Ihre Erkenntnisse über den
Organismus als lebendiges, offenes System lassen homöostatische
Vorstellungen in Bezug auf den Organismus als unangemessen
erscheinen. Vielmehr sind lebende Systeme gekennzeichnet durch
die Aufrechterhaltung eines bestimmten individuellen
Ungleichgewichtszustands und dadurch immer offen für Störungen
und Weiterentwicklung.113 Stabilität existiert zwar,
jedoch nur als temporärer Zustand und ist außerdem nicht
gleichbedeutend mit Gleichgewicht. Es gehört zu der als
---------------------------------------------------------------
109. Goldstein, a.a.O., S.
186.
110. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 19ff.
111. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 20/21.
112. Votsmeier, a.a.O. ‚ S.
5.
113. s. Votsmeier, a.a.O., S.
73.
- 39 -
Autopoiese bezeichneten
Eigenschaft lebender Systeme, "sich ständig selbst zu erneuern
und diesen Prozeß so zu regeln, daß die Integrität der Struktur
gewahrt bleibt."114 "Aufbauende und abbauende
Prozesse laufen ständig gleichzeitig ab. Damit wird nicht nur
die Evolution eines Systems, sondern auch seine zeitweise
Existenz in einer bestimmten Struktur in Prozesse aufgelöst. Im
Bereich des Lebendigen gibt es wenig, was solide und starr ist."115
Dieser kurze Bezug auf die
Theorie der Selbstorganisation kann nur andeuten, wie Ergebnisse
aus dem Neuen Paradigma zur Weiterentwicklung und u.U. der
Revision der Theorie der Gestalt-Therapie fuhren können; in
diesem Fall angewandt auf die Vorstellung vom Organismus. Zu
einer vertieften Darstellung und ausführlicheren Diskussion sei
hier nochmals direkt auf Jantsch und das entsprechende Kapitel
bei Capra, Wendezeit, sowie auf die Arbeit von Votsmeier
verwiesen.*
Wir haben in den letzten
Abschnitten den Organismus als Ganzes im Organismus-Umwelt-Feld
betrachtet. In jeder Theorie einer Therapieform besteht jedoch
die Notwendigkeit, den Organismus näher zu differenzieren. Dabei
taucht dann die Frage nach der “Psyche“ auf, und Begriffe
wie “Ich“ oder “Selbst“, “Bewußtes“
und “Unbewußtes“ kommen ins Spiel.
Die Psyche in der
Gestalt-Therapie ist alles andere als ein “psychischer Apparat“.
Eindeutig wird die Theorie des Selbst als eine
Vorstellung erkennbar, die auf der Basis von Feldgeschehen
beruht und die die Idee “substantieller Instanzen“, quasi
lokalisierbarer Seelenbereiche, von sich weist. Hier besteht ein
wesentlicher Unterschied zur mechanistischen Konzeption der
Psychoanalyse.
Das Selbst in der
Gestalt-Therapie ist in Bewegung, schwer greif bar, pulsiert und
wandelt sich mit den Bewegungen des Feldes, oder genauer gesagt,
mit den Bewegungen des Organismus-Umwelt-Feldes. Das Selbst ist
im weitesten Sinne identisch mit dem Figur/Grund-Geschehen in
Kontaktsituationen.
“Ich“, “Es“ und
“Persönlichkeit“ erscheinen als “Partialstruktu-
----------------------------------------------------------
114. Jantsch, a.a.O.‚ S. 33.
115. . Jantsch, a.a.O., S. 33.
* (Votsmeier hat inzwischen
weitere Veröffentlichungen zum diesem Thema vorgelegt, s. z. B.:
Votsmeier-Röhr,
A.
(2004):
Selbstregulierung in der Gestalttherapie, in: Was ist
Selbstregulation?, Geißler, P.(Hrsg.). Gießen 2004, 69 – 94
(Psychosozial-Verlag).)
- 40 -
ren des Selbst".116
Vorab sei zunächst eine
interessante Beobachtung mitgeteilt:
Perls befaßt sich in "Das
Ich, der Hunger und die Aggression" und später in
“Gestalt-Therapie in Aktion“ hauptsächlich mit dem Ich und der
Ich-Grenze, während bei Perls/Hefferline/Goodman der Schwerpunkt
auf dem Selbst und der Kontaktgrenze liegt. Das führt teilweise
zu Schwierigkeiten und Undeutlichkeiten in den Abgrenzungen.
Meine eigenen Schwierigkeiten
in diesem Bereich liegen in der Abkehr vom gewohnten Denken in
Kategorien abgrenzbarer, psychischer Instanzen, hin zu
Feldgeschehen und Prozeßdenken, bei dem das Selbst zu - oft
ineinanderfließenden - Prozessen wird.
Versuchen wir nun eine kurze
Bestandsaufnahme:
Der umfassendste psychische
Prozeß ist der des Selbst. “Wir wollen das
‘Selbst‘ als das System der ständig neuen Kontakte definieren.
Als solch ein System ist das Selbst von flexibler Vielfalt, denn
es verändert sich mit den vorherrschenden Bedürfnissen und den
andrängenden Umweltreizen; es ist das System der Reaktionen; es
ist schwächer im Schlaf, wenn keine Notwendigkeit einer Reaktion
besteht. Das Selbst ist die Kontaktgrenze in Tätigkeit; diese
Tätigkeit ist die Erschaffung von Figur und Hintergründen.“117
Ausdrücklich stellen Perls/Hefferline/Goodman fest: “Das Selbst
ist nicht als Institution mit festem Standort zu denken; es
existiert, wo und wann immer eine Grenzinteraktion tatsächlich
stattfindet.“118 Das Selbst ist identisch mit dem
Figur/Grund-Prozeß in Kontaktsituationen; innerhalb des
Organismus wirkt es als Integrator der organismischen Funktionen
und Bedürfnisse.
Als Kontaktgrenze in
Tätigkeit bildet es das spezifische Organ für das Gewahrsein
(die Bewußtheit) der neuen Situation im Feld und gehört sowohl
dem Organismus wie der Umwelt an.119
Es erhält dabei die
Bedeutung, zwischen “Selbst“ und “Fremdem“ zu unterscheiden, und
wann immer diese Funktion im Vordergrund steht, sprechen wir vom
“Ich“ . Das Ich ist also ebenfalls substanzlos.120
--------------------------------------------------------
116. P/H/G, a.a.0., S. 167.
117. P/H/G,
a.a.0.‚ S. 17.
118. P/H/G,
a.a.O., S. 161.
119. P/H/G.
a.a.O., S. 41 + 161.
120. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 165.
- 41 -
Es beginnt, wie das Selbst,
oder besser: als Aspekt des Selbst, im Kontakt zu funktionieren
und hat die Aufgabe der Abgrenzung/Entfremdung und
Identifizierung. 121 "Nur, wo und wenn das Selbst
dem ‘Fremden‘ begegnet, beginnt das Ich zu funktionieren und zu
existieren, die Grenze zwischen dem persönlichen und
unpersönlichen ‘Feld‘ zu bestimmen.“122
Damit wird deutlich, daß die
Ich-Grenze flexibel ist, sie bewegt sich mit der jeweiligen
Identifizierung oder Abgrenzung; sie ist - wie die Kontaktgrenze
- nicht identisch mit der Haut.
Dem Ich kommt auch eine integrierende
Funktion zu. Es besitzt " ...eine Art Verwaltungsfunktion; es
verbindet die Handlungen des ganzen Organismus mit seinen
vordringlichsten Bedürfnissen; ..."123
Wie das Ich stellt auch die “Persönlichkeit“
nur ein Stadium des Selbst dar. Es ist ". . . die geschaffene
Figur, zu der das Selbst wird, und die es an den Organismus
assimiliert, vereinigt mit den Ergebnissen früheren Wachstums."124 Die Persönlichkeit wird
weiter definiert als "das System der Einstellungen in
zwischenpersönlichen Beziehungen.“125 Im Falle von
Neurose besteht die Persönlichkeit “aus einer Anzahl irriger
Vorstellungen über sich selbst, aus Introjekten, Ich-Idealen,
Masken usw.“126 Darüberhinaus betrachten
Perls/Hefferline!Goodman die Persönlichkeit auch als die
Verantwortungsstruktur des Selbst.127
Zum Abschluß dieser
Darstellung möchte ich die gerade genannten Autoren einmal
ausführlicher zitieren, und zwar mit einer Beschreibung der
verschiedenen Stadien des Selbst als Prozeß; wobei
diese Stadien dem Figur/Grund-Geschehen bzw. dem
Gestaltbildungsprozeß entsprechen, jedoch ohne die Phase des
Rückzugs. Dieses Zitat kann einen guten Eindruck davon
vermitteln, wie sich die Begriffe “Ich“ und “Selbst“ in
dynamisches Feldgeschehen auflösen. Ich bin geneigt, diese
Formulierungen und Vorstellungen
-------------------------------------------------------
121. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 167; Perls, Aktion, a.a.O. ‚ S. l6.
122. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 171.
123. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 175.
124. P/H/G,
a.a.O., S. 167.
125. P/H/G,
a.a.O. ‚ S. 171.
126. P/H/G,
a.a.O. ‚ S. 171.
127. P/H/G,
a.a.O. ‚ S. 172.
- 42 -
als revolutionär zu
bezeichnen. Die Distanz zu gewohntem, mechanistischem Denken ist
erstaunlich groß, und die Nachvollziehbarkeit dieser Theorie
erscheint mir nicht minder schwierig, wie die der Theorien der
Neuen Physik. Hier also das Zitat:
"Im Ich-Stadium der
schöpferischen Anpassung identifiziert sich das Selbst
mit Teilen des Feldes, die es als sein eigen, und entfremdet
sich von anderen, die es als nicht sein eigen betrachtet. Es
empfindet sich als einen aktiven Prozeß, als etwas
Absichtsvolles, aus bestimmten Wünschen, Interessen und Kräften
Bestehendes, die eine klare, aber sich verschiebende Grenze
haben. Das Selbst läßt sich nach und nach ein, als ob es fragte:
Was brauche ich ? Soll ich
das tun ? Wieso bin ich erregt ?.. Was für Mittel habe ich zur
Verfügung ? Soll ich jetzt weitermachen oder warten ? . . .
Solche absichtlichen Funktionen werden vom Selbst spontan
ausgeübt und weitergeführt mit aller Kraft des Selbst, des
Gewahrseins und der Erregung und der Gestaltung neuer Figuren.
Und zuletzt, im Nachkontakt und im Kontaktvollzug, löst sich
dieses Absichtliche, das Gefühl des ‘Ich‘ spontan in das
Interesse auf, und nun werden die Grenzen unwichtig, denn der
Kontakt gilt nicht einer Grenze, sondern dem Berührten, dem
Bekannten, dem Geflossenen und dem Gemachten."128
Nachdem nun hinreichend
deutlich wurde, daß die Theorie der Gestalt-Therapie bezogen auf
den Organismus und die Konzeption des Selbst als im Denken des
Neuen Paradigmas fundiert betrachtet werden kann, zumindest
bezogen auf die Grundlegung der Theoriebildung bei Perls und
Per]s/Hefferline/Goodman, können wir uns der weiteren
theoretischen Entwicklung der Gestalt-Therapie widmen.
Dabei erlangen zwei Debatten
eine besondere Bedeutung, die beide u.a. um die Frage kreisen,
inwieweit die Theorie der Gestalt-Therapie punktuell einer Art
"mechanistischem Revisionismus" unterliegt, also wieder zu
mechanistischer Theoriebildung zurückkehrt. Diese Gefahr ist
dann besonders gegeben, wenn psychoanalytische Konzepte auf ihre
Integrierbarkeit in die Gestalt-Therapie überprüft werden.
-------------------------------------------------------------
128. P/H/G,
a.a.O. ‚ S. 240.
(...)
(…)
(…)
-45-
Fassen wir zusammen, so
stellen wir fest, daß in der ersten Hälfte der 1980ger Jahre das
Bewußtsein über die Grundorientierung der Gestalt-Therapie am
Neuen Paradigma wieder zunahm. Anstöße durch theoretische
Entwicklungen von außen wie zunehmende Widersprüche in der
eigenen Theorie und Praxis, machten die Theorie der
Gestalt-Therapie selbst zu einer prägnanter werdenden Figur und
führten zu einer lebhaften Auseinandersetzung darüber, was
Gestalt-Therapie ist, worauf sie beruht und was sie werden kann.
Die Ausgaben des Gestalt Journal in den letzten Jahren spiegeln
diese Bewegung.
Kehren wir zurück zu unserer
Ausgangsfrage, ob die Gestalt-Therapie in ihren Grundkonzepten
auf dem Denken des Neuen Paradigmas beruht, so ist die Antwort
differenziert:
- Ja; solange
wir ihre frühe theoretische Fundierung im Blick haben.
-46-
- Es kommt darauf an; wenn wir die
spätere Entwicklung betrachten.
Die nächste Zeit wird zeigen,
ob die Gestalt-Therapie sich wieder feldtheoretisch konsistent
formiert; dabei ist für mich unklar, wieviel Unterschiede in
ihrer Theorie und Praxis die Gestalt-Therapie ertragen kann,
ohne als eigenständige und einheitliche Therapie-Gestalt zu
zerfallen.
Bevor ich diese Arbeit
abschließe, möchte ich noch ein paar Gedanken darauf verwenden,
ob das Neue Paradigma tatsächlich so weit entfernt ist von
unserem alltäglichen Leben.
In der Auseinandersetzung mit
dem Neuen Paradigma stehen wir immer wieder vor der Tatsache,
mit bisher unbekannten, ungewohnten oder ungedachten Weisen von
Welt konfrontiert zu werden.
- Da stehen wir vor Phänomenen,
denen wir zum ersten Mal begegnen und die uns durch ihre
radikale Andersartigkeit überraschen, vielleicht erschüttern;
- da begegnen wir einer Welt, die
nicht länger unseren gewohnten und vertrauten Erfahrungen
entspricht, eine Welt, die wir über unsere Sinne nicht
unmittelbar erkennen können;
- da sind wir gezwungen, auf
einmal, ohne graduellen Übergang, das bisher Undenkbare zu
denken.
Diese Erfahrungen teilen wir
mit den Wissenschaftlern, die zum ersten Mal mit den neuen
Problemen und Forschungsergebnissen der Physik in Berührung
kamen. "In ihrem Bemühen, diese neue Wirklichkeit zu begreifen,
wurden die Wissenschaftler sich schmerzhaft dessen bewußt, daß
ihre Grundbegriffe, ihre Sprache und ihre ganze Art zu denken
nicht ausreichten, die atomaren Phänomene zu beschreiben. Ihr
Problem war nicht nur intellektueller Art, sondern schloß auch
eine tiefgreifende emotionale und existentielle Erfahrung ein."136
“Wir haben keine unmittelbare
Sinneserfahrung der vierdimensionalen Raumzeit, und jedesmal,
wenn diese relativistische Wirk
----------------------------------------------------------
136. Capra, Wendezeit,
a.a.O., S. 78.
-47-
lichkeit sich manifestiert..,
fällt es uns schwer, damit auf der Ebene der Intuition und der
gewöhnlichen Sprache umzugehen."137
Wir alle sind im Rahmen des
mechanistischen Weltbilds erzogen, haben gelernt, die Welt durch
mechanistische Modelle zu erkennen. Aber bei diesem "wir" gilt
es schon erhebliche Einschränkungen zu machen, z.B. die, daß
östliche Kulturen andere Weltbilder entwickelt haben, und daß
manche Vorstellungen der Meister des Buddhismus oder des
Taoismus den Aussagen des Neuen Paradigmas sehr ähnlich sind.138
Auch in den beschriebenen
Auseinandersetzungen innerhalb der Gestalt-Therapie werden ja
teilweise die phänomenologische Erfahrung gegen
feldtheoretisches Denken gesetzt.
Ich habe zwei generelle
Einwände gegen diese Gegensatzbildung:
- 1. Was veranlaßt uns
überhaupt dazu, einen Gegensatz zu konstruieren? Ist nicht die
Vorstellung einer Komplementarität viel naheliegender? Dann
nämlich ist sowohl die eine Betrachtungs- und Erfahrungsweise
möglich als auch die andere. Der Unterschied besteht im
unterschiedlichen Standort des Betrachters/Erlebenden und/oder
in einer unterschiedlichen Betrachtungs- oder Erlebnis-ebene.
Eine solche Sichtweise würde auch viel eher dem Neuen Paradigma
entsprechen. Die Physiker haben sich ebenfalls daran gewöhnt,
daß sie z.B. das Licht als Welle und Teilchen betrachten können.
Wie Perls sich über den
Organismus äußert, entspricht eben dieser Denkweise: "Kein
Organismus ist autark. Er braucht die Weit zur Befriedigung
seiner Bedürfnisse. Einen Organismus für sich allein zu
betrachten, bedeutet, daß man ihn als eine künstlich isolierte
Einheit ansieht, während in Wirklichkeit immer eine
Interdependenz zwischen dem Organismus und seiner Umwelt
besteht. Der Organismus ist ein Teil der Welt, aber er kann
die Welt auch als etwas von ihm Getrenntes erleben - als
etwas, das ebenso real ist wie er selbst. (Hervorhebung von mir;
D.K.)"139
---------------------------------------------------------
137. Capra, Wendezeit,
a.a.O., S. 94.
138. vergl. Capra, Reigen,
a.a.O.
139. Perls, Das Ich, a.a.O.,
S. 47.
-48-
- 2.
Ich finde, wir sollten vorsichtig sein mit der Behauptung, eine
feldtheoretische Konzeption der Welt sei nicht erfahrbar. Es
gibt einiges zu bedenken:
- Latner
weist darauf hin, daß wir - aus verschiedenen Gründen - im
Figur/Grund-Prozeß gewöhnlich mehr auf die Figur konzentriert
sind. “But
while that will give us a sense of the world in which there are
objects moving around each other against an interesting
background, that sense is a creation of our immediate sensory
experience.
My belief and experience is while the field
conception represents a move away from the imrnediacy of gross
physical experience, it reflects as well a subtle direct
experience to which we can attune ourselves, in the same way
that we learn to be more sensitive to subtle body tensions and
vocal inflections …"140
Es gibt gute Gründe,
anzunehmen, daß die Erfahrung, die ein Mensch macht, der einen
der östlichen Meditationswege beschreitet, oder eine andere
mystische Praxis ausübt, eine Erfahrung des großen
Feldzusammenhangs und der ständigen Bewegung des Feldes zwischen
zunehmender und abnehmender Dichte darstellt.
- Wir sind ja nicht
tatsächlich getrennt von den subatomaren und makrokosmischen
Vorgängen, die diese andere, erstaunliche Wirklichkeit
offenbaren. Wir entstehen, sind und vergehen ja gerade durch
dieses Spiel subatomarer "Teilchen" im Grenzbereich von Materie
und Energie, Prozeß und Struktur am Rande der
Lichtgeschwindigkeit. Der Tanz wird auch in uns getanzt.
Gleichzeitig - makrokosmisch
- ist die Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen, relativ: als
Körper auf der Erde drehen wir und mit dieser, mit der
entsprechenden Geschwindigkeit, mit der sie sich um sich selbst
dreht; mit der Erde drehen wir uns auch um die Sonne, mit wieder
etwas größerer Geschwindigkeit; mit dem Sonnensystem bewegen wir
uns in der Milchstraße; mit allen Milchstraßen rasen wir zu den
‘Grenzen‘ des Alls... mit welcher Geschwindigkeit ‘?
Ich möchte abschließend noch
einmal Joel Latner zitieren, mit
--------------------------------------------------------
140. Latner,
Speed, a.a.O., S. 76.
-49-
ein paar sehr schönen, fast
poetischen Zeilen, die mich in besonderer Weise berührt haben:
"It is
apparently the case that the differences in the practical
applications of classical and modern physics are measurable only
with tiny particles travelling nearly the speed of light. They
have been measured only recently. At the same time, millions of
people, many of whom have lived hundreds and thousands of years
before Faraday and Einstein, have conceived of the world just as
they did. What can we make of it?
Weil, maybe the fabric of the universe encompasses
all of it, and we large bodies moving at slow speeds can feel
the tug of those faster, smaller particles. Maybe the
immeasurably moving things that happen in therapy - the inchoate
knowledge, and hints of things I could not have known, the
sudden intimacy and shared experience - maybe these are also
part of a world as palpable as our material one, and confluent
with it. Maybe we are, after all, small, fast moving bodies, and
this is the speed of light."141
(…)
-----------------------------------------------
141. Latner,
Speed, a.a.O. ‚ S. 88.
-51-
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